Herr Vigneron, erklären Sie uns bitte Cartier in drei Sätzen.
Unmöglich. Das geht nicht.
Das geht nicht?
Cartier hat eine sehr grosse Vielfalt. Und wenn man diese auf drei Sätze beschränkt, wird man ihr nicht gerecht und macht uns sozusagen arm.
Gut, dann heben wir das Limit auf. Erklären Sie uns Cartier.
Es hat mit Paradoxen zu tun. Cartier ist lebendige Tradition. Zeitlosigkeit. Das Pure und der Exzess. Der singuläre Pluralismus. Die mehrfache Singularität. Das Maskulin-Feminine. Die Diversität des Stils. Der Reichtum der Sinne. Die Richtigkeit der Proportionen. Innovative Formen. Und gleichzeitig pure Klassik.
Ein weites Programm. Und wie drückt sich das in den Neuheiten aus?
Wir tauchen wieder in unser ganzes, sehr reiches Erbe ein. Da geht es um bestimmte Formen, die Ikonen geworden sind, weil die Proportionen stimmen und sie in ihrer Kategorie perfekt sind.
Ein Beispiel?
Letztes Jahr ging es um die Panthère, ein Modell, das einige Zeit nicht mehr produziert worden war. Die Proportionen der alten Panthère waren genau richtig, es gab ein grosses, ein mittleres und ein kleines Modell. Wir haben gesehen, dass man das nicht besser machen kann. Also haben wir die Proportionen übernommen.
Sie haben nichts verändert?
Nichts. Das war eine Frage des Respekts. Gut, ein paar Details mussten angepasst werden. Wir haben auch das Zifferblatt leicht modifiziert, es war seinerzeit eierschalenfarben, heute ist es ein Spürchen weisser. Und dann haben wir natürlich die Dichtungen verbessert. Mehr haben wir nicht gemacht. Es bleibt die gleiche Uhr.
Und dieses Jahr?
Dieses Jahr befassen wir uns mit dem Modell Santos. Hier hatte es viele Entwicklungen gegeben. Am schönsten fand ich die Santos Galbée. Aber anders als die Panthère, deren Grösse für Frauen noch heute stimmt, war die damalige Santos Galbée in Anbetracht der Uhrengrösse, die Männer heute tragen, doch zu klein. Wir haben uns also gesagt, dass wir von der damaligen Santos ausgehen und sie weiterentwickeln.
Nämlich?
Es ging zum Beispiel um die Spannung zwischen männlich und weiblich. Es war uns wichtig, eine Spur mehr Feminität ins Design zu bringen, ganz leicht rundere Formen. Dann gab es technische Weiterentwicklungen: ein verbesserter Antimagnetismus, eine Wasserdichtigkeit bis 100 Meter, überarbeitete Dichtungen, bessere Öle. Im Wesentlichen wollten wir die Ästhetik in der ganzen Tiefe übernehmen, nötige Anpassungen vornehmen und das Ganze in einer sehr wertigen Anmutung zu einem kompetitiven Preis hinkriegen. Die Stahlversion mit Lederband gibt es ab 5000 Franken, das ist ein sehr guter Preis.
Sie reden vor allem von Uhren im Einsteigersegment. Gibt es bei Cartier keine Haute Horlogerie mehr?
Doch. Wir haben ja die Kollektion Cartier Libre. Da geben wir den Designern freien Auslauf für Uhren, die in geringen Stückzahlen produziert werden und alle sehr einzigartig und originell sind. Aber auch das geschieht immer mit Respekt vor unserer Geschichte. Man kann diese Historie weiterschreiben, gewiss, und mit neuen Themen innovativ sein. Aber man muss wissen, wie man das tut, man muss gewisse Formen respektieren, weil sie schön sind. Man kann nicht einfach Neues um des Neuen willen machen.
Die Santos war zu ihrer Zeit eine Uhr, die man heute disruptiv nennen würde. Eine Armbanduhr, als Männer noch Taschenuhren trugen, vielleicht die erste Fliegeruhr. Und dann sah man Schrauben auf der Lünette, sehr kühn für die Zeit. Hat es heute noch Platz für solche Brüche, oder gibt es nur noch Remakes?
Wir machen kein Remake. Wir geben unseren Modellen vielleicht eine neue Jugend. Aber das ist kein Remake. Bei der Panthère zum Beispiel war es eine Renaissance.
Und worin liegt der Unterschied?
Wir hatten mit der Panthère eine Uhr, die sich im Winterschlaf befand, und wir haben sie wieder zum Leben erweckt. Bei der Santos wiederum sehen Sie die Evolution einer Familie mit einem sehr starken Design. Beides ist kein Remake. Es ist kein Vintage-Produkt, das man wieder neu gemacht hat. Wir haben bei Cartier zeitlose Designs. Das heisst nicht, dass die Produkte gut altern – es heisst, dass sie gar nicht altern. Man kann sie zeitlich nicht festmachen. Man kann nicht sagen: Diese Uhr wurde vor 100 Jahren gemacht oder vor 50. Es geht auch nicht um eine Nostalgisierung der Vergangenheit, sondern um eine lebendige Tradition.
Nochmals: Gibt es auch Platz für disruptive Produkte?
Natürlich. Bei der Kollektion Cartier Libre tun wir das auch immer wieder. Vermutlich geht das sogar für Volumenprodukte. Aber wir brauchen es heute nicht zwingend. Mir war es wichtiger, unsere Einzigartigkeit aufzuzeigen. Ich wollte eine Wiederaneignung des gesamten Erbes, das man ein bisschen vergessen hatte. Ich wollte all diese Schönheiten wieder in Szene setzen. Das allein ist eine Riesenarbeit und wichtiger als die Kreation einer neuen Gehäuseform.
Also keine neue Gehäuseform?
Wir haben 2015 mit der Clé de Cartier und letztes Jahr mit der Drive neue Modelle lanciert. Dieses Jahr kümmern wir uns um die vorhandenen Formen – sie sind ja wunderschön.
Die neuen gefallen Ihnen nicht?
Ich mag die Drive sehr, und ich trage sie mit Freude. Aber die Frage war: Brauchen wir nach der Drive schon wieder eine neue verschiedenartige Uhr? Ich frage Sie ganz ehrlich: An welche Neuheit des letztjährigen Uhrensalons erinnern Sie sich? Vermutlich an höchstens zwei oder drei – und das für einen ganzen Salon!
Wir sehen einen Paradigmenwechsel. Cartier stellte vor Jahren stark die Haute Horlogerie ins Scheinwerferlicht, Sie hingegen scheinen sich von der komplizierten Uhrmacherei zu verabschieden.
Man legte viel Nachdruck auf die Haute Horlogerie, richtig. Und man baute wunderbare Werke, sehr schöne Komplikationen. Manchmal wurden die Uhren deshalb ein bisschen wuchtig – man kann auch übertreiben. Am Ende jagte in der Haute Horlogerie eine Neuheit die andere, obschon die Kundschaft diesen Rhythmus gar nicht unbedingt wollte.
Was will die Kundschaft denn?
Das Herz von Cartier sind feminine Uhren, Formuhren, Proportionen. Wenn man all die technischen Heldentaten in zu grosse Gehäuse hineinpacken will, kommt man in eine Domäne, die nicht zwingend die unsere ist.
Wie lief das letzte Jahr für Cartier?
Sehr gut. Wir wachsen beim Schmuck und bei den Uhren.
Aber wohl stärker beim Schmuck?
Nein, stärker bei den Uhren.
Generell ist es eher umgekehrt.
Das war vor zwei Jahren tatsächlich der Fall. Damals haben wir einen starken Reinigungseffort unternommen und Produkte aus übervollen Lagern zurückgenommen. Das hat uns eine gesunde Basis gegeben.
Was erwarten Sie vom aktuellen Jahr?
Die Tendenz bleibt für uns sehr positiv. Man muss aber sehen, dass sich der globale Markt und die globale Nachfrage für die Branche gesamthaft nur moderat verbessert haben. Wer sein Angebot nicht überarbeitet hat und mit zu vielen Produkten und einem zu grossen Lager am Markt ist, wird Probleme haben.
Und was unternehmen Sie, damit sich das Lagerproblem nicht wiederholt?
Man muss genau beobachten, was man wirklich verkauft. Wir sehen in unserem eigenen Verkaufsnetz ja sehr gut, was wirklich gefragt ist. Wir wissen jeden Tag bis auf jede Referenz exakt, was wir verkauft haben.
Was halten Sie vom E-Commerce?
Er ist sehr wohl ein Thema, für die Kundenkommunikation und den Verkauf. Unsere Verkäufe nehmen online zu. Aber in Sachen Uhren funktioniert der Onlineverkauf leider vor allem auch bei nicht autorisierten Partnern, also im Graumarkt.
Das wollen Sie aber nicht wirklich.
Nein.
Und selber verkaufen Sie nicht online?
Wir verkaufen online, klar. Mit einem starken Wachstum. Und das tun auch unsere Partner, Warenhäuser wie Detaillisten.
In Prozent?
Global ist es noch wenig, einstellig. Aber es wächst schnell. Und vor allem ist die Suche nach Informationen online sehr wichtig. Es macht wenig Sinn zu fragen, ob der Kunde am Ende online oder in der Boutique gekauft hat. Wir lancierten die Panthère auf dem Onlineportal Net-a-Porter, das hatte eine starke Image-Wirkung. Viele Kunden sahen die Uhr auf Net-a-Porter und kauften sie dann in einer Boutique. Aber es gab auch umgekehrt Kunden, welche die Uhr in unserer Boutique sahen und auf Net-a-Porter kauften. Es ist schwierig herauszufinden, welchen Anteil das Internet und welchen Anteil der Retail zum Kaufentscheid beigetragen haben. Das beeinflusst sich gegenseitig.
Was ist für Sie die Funktion einer Uhr?
Es geht um das Image von sich selber. Die Funktion ist sekundär. Es geht darum, was Sie über sich aussagen, wenn Sie eine bestimmte Uhr tragen.
Und was sage ich über mich aus, wenn ich eine Cartier trage?
Dass Sie ein eleganter Mann sind, der Herr über seine Zeit ist.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Uhr?
Es war eine Yema. Ich war zwölf Jahre alt, als ich sie erhielt.
Und was bedeutete sie für Sie?
Ich erinnere mich, dass ich so etwas wie ein Verantwortungsgefühl entwickelte. Es war meine erste Uhr, ich wollte sie nicht verlieren und nicht beschädigen. Und ich wollte damit auch Herr über meine Zeit sein. Meine erste wertvolle Uhr war eine Must de Cartier Vermeil, später kam eine Tank Française dazu.