Sonntag, 22. März: Ein warmer Frühlingstag in Tokio. Am Flüsschen Onda im Vorort Machida tummeln sich Hunderte Familien und Paare sowie Jogger, Velofahrer und Hobbyfotografen. Sie sind gekommen, um Sakura zu bewundern, die Kirschblüte, die in diesem Jahr besonders früh dran ist. Während sie die rechte Flussseite schon in ein rosa-weisses Blütenmeer taucht, ist die linke Seite noch beinahe kahl.
Die Stimmung ist gut und nur die vielen Medizinmasken erinnern vage an die Pandemie, die Regierungen in anderen Teilen der Welt zu Lockdowns und weiteren massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit veranlasst hat. Aber die Masken sind in Japan im Winter und Frühling ohnehin allgegenwärtig. Es gilt als Zeichen des Anstandes, wenn man bei einer Erkältung oder Pollenallergie einen Mundschutz trägt und so die Mitmenschen vor möglichen Tröpfcheninfektionen schützt.
Alles wie sonst – aber etwas fehlt
Die Züge in der Metropole sind am Wochenende und unter der Woche wie immer voll, gut besucht sind auch die stadtnahen Sehenswürdigkeiten und Naherholungsgebiete, wie die Halbinsel Enoshima oder der Sandstrand der Sagami-Bucht. Doch etwas ist anders: Es fehlen die ausländischen Touristen.
Die globale Reiseindustrie ist in den letzten Wochen schrittweise zum Erliegen gekommen. Immer mehr Länder verhängten Restriktionen und auch in Japan dürfen Reisende aus zahlreichen europäischen Ländern – darunter der Schweiz – sowie Iran und Teilen von China und Südkorea inzwischen nicht mehr einreisen. Mit Entsetzen und Verwunderung verfolgen die Japaner im Fernsehen und im Internet, was in Venedig, Madrid und New York oder auch in der Schweiz abgeht.
«Massnahmen wie Ausgangssperren oder Zwangsquarantäne sind in Japan rechtlich nicht möglich.»
Als im Januar bei einigen Rückkehrern aus Wuhan die ersten Infektionen mit dem neuen Coronavirus im Land auftauchten, war Europa von der Krise noch so gut wie unberührt. Japans Regierung reagierte nur zögerlich und schien in erster Linie auf den Schutz der Tourismusindustrie und auf die Durchführung der Olympischen Spiele bedacht. 2020 sollte für Langzeit-Premierminister Shinzo Abe ein Schaulaufen werden. Das Ziel: 40 Millionen Touristen und ein Wirtschaftsboom dank den Sommerspielen.
Dies schien umso wichtiger, als Japans Wirtschaft im dritten Quartal 2019 nach einer Erhöhung der Konsumsteuer geschrumpft war. Entsprechend gering war deshalb am Anfang der Krise das Interesse, genaue – und möglicherweise hohe – Fallzahlen zu erheben.
Charterflüge aus Wuhan
Kritik am Vorgehen der Regierung wurde erstmals Ende Januar vernehmbar, nachdem die Passagiere von gecharterten Rückkehrflügen aus Wuhan nicht konsequent unter Quarantäne gestellt wurden. Zwei Personen verweigerten zudem zunächst den Test auf das Virus, während mehrere andere Passagiere auf dem gleichen Flug positiv getestet wurden. Man habe leider keine gesetzliche Grundlage, die Menschen zu Tests zu zwingen, erklärte Abe im Parlament. Und auch Massnahmen wie Ausgangssperren oder Zwangsquarantäne sind rechtlich nicht möglich. So werden beispielsweise Reisende aus den USA lediglich gebeten, sich für 14 Tage in einer «bestimmten Einrichtung» unter Quarantäne stellen zu lassen.
Die Einreise- und Quarantäneregeln für ankommende Passagiere während der Corona-Krise finden Sie hier.
Umstrittene Quarantäne der «Diamond Princess»
Schon Ende Januar kam es zu einer Welle von Hamsterkäufen von Medizinmasken, die seither nur noch mit sehr viel Glück in Läden zu finden und immer innert kürzester Zeit ausverkauft sind. Die Verunsicherung wurde noch verstärkt durch das Debakel auf dem Kreuzfahrtschiff «Diamond Princess» im Hafen von Yokohama. Anders als mögliche Risikopersonen im Inland wurde das gesamte Schiff mit über 3700 Passagieren und Besatzungsmitgliedern für 17 Tage unter Quarantäne gestellt. Dies, nachdem die Behörden am 3. Februar zehn an Covid-19 erkrankte Passagiere fanden. Die Bilanz nach der Massnahme: über 700 Kranke und 11 Tote.
Die Quarantäne vieler Menschen auf engem Raum bot dem Virus ideale Voraussetzungen zur Vermehrung, zeigt eine Studie von Epidemiologen im «Journal of Travel Medicine»: «Die Bedingungen auf dem Kreuzfahrtschiff verstärkten die Ausbreitung einer bereits hochansteckenden Krankheit.»
Eine sofortige Evakuierung des Schiffs hätte zu einer Zahl von 76 Infizierten in der Inkubationsphase geführt, schätzen die Experten. Japans Regierung hingegen verteidigte die Quarantäne und intervenierte stattdessen erfolgreich bei der Weltgesundheitsorganisation WHO, um eine Abtrennung der Fallzahl auf dem Kreuzfahrtschiff von der offiziellen Zahl der Erkrankten im Land zu erreichen.
«Als schliesslich die Quarantäne der ‹Diamond Princess› doch aufgehoben wurde, schien Japan endgültig zu einem ‹zweiten Wuhan› zu werden.»
Als schliesslich die Quarantäne der «Diamond Princess» doch aufgehoben wurde, schien Japan endgültig vor einer Explosion der Erkrankungen zu stehen und zu einem «zweiten Wuhan» zu werden, wie Medien schrieben. Einheimische Passagiere, die nach einem negativen Test aus dem Schiff gelassen wurden, schickten die Behörden mit dem öffentlichen Verkehr nach Hause; Ausländer, die nicht schon zuvor von ihren Regierungen evakuiert worden waren, konnten sich frei im Land verteilen. Mehrere Ex-Passagiere wurden später noch positiv auf das neue Coronavirus getestet.
Gesundheitsminister Katsunobu Kato räumte zudem ein, dass nicht alle Entlassenen vor dem Verlassen des Schiffs getestet worden waren, und entschuldigte sich für den Fehler.
«Zugunglück in Zeitlupe»
Kolumnist Jeff Kingston beschrieb die Situation in Japan in der «Washington Post» am 21. Februar als «Zugunglück in Zeitlupe». Doch die Befürchtungen haben sich bisher nicht erfüllt.
Mehr als einen Monat nach der Krise auf der «Diamond Princess» liegt die Zahl der Erkrankten weit tiefer als anderswo. Nach der Zählung der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore wurde das Virus bis am Donnerstag inklusive der Kreuzfahrt-Passagiere bei rund 3100 Menschen im Land nachgewiesen. 68 von ihnen starben, darunter der bekannte Komiker Ken Shimura.
Zum Vergleich: In Deutschland gab es bisher knapp 80’000 Fälle und über 900 Tote und in der Schweiz steht man am 2. April bei rund 18’000 Erkrankten und 500 Toten. Und in den USA sind bei mehr als 200’000 Krankheitsfällen schon über 5000 Menschen an Covid-19 gestorben.
Woran liegt es? Jedenfalls nicht an einem rigorosen Vorgehen der Regierung im Kampf gegen das Virus. Zwar wurden die Schulen landesweit geschlossen und Grossveranstaltungen abgesagt oder verschoben – zuletzt sogar die Olympischen Spiele. Und auch wenn in den letzten Tagen die Schraube etwas angezogen wurde – die Gouverneurin von Tokio, Yuriko Koike, forderte die Leute am Wochenende auf, zu Hause zu bleiben, einige Warenhäuser sind inzwischen geschlossen –, so sind die Massnahmen vergleichsweise zahm geblieben.
Kritiker verweisen vor allem auf die geringe Zahl von Virustests. Mitte März wurde bekannt, dass Japan nur etwa 5 Prozent so viele Tests durchgeführt hatte wie das benachbarte Südkorea. Es gebe keinen Grund, die volle Testkapazität zu nutzen, nur weil sie vorhanden sei, erklärte ein Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums. Es sei auch nicht nötig, Leute zu testen, nur weil sie sich Sorgen machten.
«Eine Studie ergab, dass 80 Prozent der bestätigten Covid-19-Patienten das Virus nicht weitergegeben hatten.»
Doch es gibt auch deutliche Hinweise dafür, dass der Ausbruch im Land bisher tatsächlich weniger schlimm ist als an anderen Orten. Die Spitäler werden bisher nicht überrannt und die Zahl der Lungenentzündungen ist gemäss den Behörden nicht ungewöhnlich hoch. Zudem nahmen die Grippefälle in den Wochen seit dem Ausbruch des Coronavirus massiv ab, sie liegen laut dem Tokyo Metropolitan Infectious Disease Surveillance Center für 2020 landesweit tief unter dem langjährigen Durchschnitt.
Das spricht dafür, dass die Bevölkerung im Zuge der Epidemie zusätzliche Hygienemassnahmen ergriffen hat. Überall hängen Plakate, die zum Händewaschen, Maskentragen und zu gesunder Ernährung raten; an Bahnhöfen und im öffentlichen Raum wird über Lautsprecher zu den entsprechenden Handlungen aufgerufen.
Eine Studie im Auftrag der Regierung ergab am 9. März, dass 80 Prozent der bestätigten japanischen Covid-19-Patienten das Virus nicht weitergegeben hatten.
Verbeugungen und Waschkultur
Zur Eindämmung der Krankheit dürften auch kulturelle Besonderheiten beitragen. Dazu gehören die Gesichtsmasken und die Verbeugung. Händeschütteln oder Umarmungen sind selbst unter Freunden unüblich. Spirituelle Reinigungen sind zudem ein zentraler Bestandteil der religiösen Traditionen in Japan und finden ihren Widerhall im Alltag in Form einer Bade- und Waschkultur, die europäische Standards weit übertrifft. Auch die Situation einer Insel, die nur auf dem See- und Luftweg erreichbar ist, macht eine Identifikation und Eindämmung der Krankheit einfacher; umso mehr nachdem nach langem Hin und Her Einreisesperren für verschiedene Länder und Regionen erlassen wurden.
Die entscheidende Frage ist nun, ob Japan mit freiwilligen Massnahmen und einer Konzentration auf einzelne Virusausbrüche wirklich eine geringere Ausbreitung erreicht als andere Länder.
Kenji Shibuya, Professor am King’s College in London und ehemaliger WHO-Experte, ist nicht optimistisch: «Ich vermute, dass Japan bald eine Explosion der Fälle sehen wird und zwangsläufig von der Eindämmung zur Abflachung der Kurve wechseln wird», sagte er vor zwei Wochen der Wirtschaftsagentur Bloomberg. «Die Zahl der Tests nimmt zu, aber nicht genug.» Laut OECD wäre man auf einen starken Anstieg der Fälle indes ziemlich gut vorbereitet: Von allen gelisteten Ländern hat Japan die höchste Dichte an Spitalbetten.
Nach dem Aus für die Olympischen Spiele 2020 hat die Regierung inzwischen einen wichtigen Ansporn verloren, geringe Fallzahlen zu präsentieren. Es ist zu erwarten, dass die Tests nun zügig hochgefahren werden und bald ein kompletteres Bild des Ausbruchs im Land entsteht. In Tokio nahm die Zahl der bekannten Erkrankungen seit dem Entscheid des Internationalen Olympischen Komitees steil zu. Ob Japan damit ein bemerkenswerter Ausreisser bleibt oder nur mit einer kleinen Zeitverzögerung das gleiche Schicksal wie Europa und die USA erleidet, werden die nächsten Tage zeigen.
Kirschblütenpartys abgesagt
Gerüchte über eine baldige Verhängung des Ausnahmezustandes und damit eine Abkehr der bisher auf Freiwilligkeit und Belehrung basierenden Massnahmen führten mehrfach zu wellenartigen Hamsterkäufen. Doch die Regierung hat bisher keine Anstalten gemacht, die Sondervollmachten zu aktivieren.
Am letzten Märzwochenende wurden viele beliebte Orte für Kirschblütenfeste in Tokio und Umgebung abgesperrt oder mit Warnungen versehen, die um einen Verzicht auf die traditionellen Partys unter den Bäumen baten.
Dass die Leute aber am Sonntag zu Hause blieben, dürfte nicht nur am Coronavirus gelegen haben, sondern auch am ungewöhnlich späten Schneefall in diesem Jahr.