Wann die Sache mit dem Kinn Fahrt aufgenommen hat, kann Lucas Leu ziemlich genau sagen. Der Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie sieht den Anfang der Trendkurve im Frühling 2020: «Seit dem Corona-Ausbruch haben sich Jawline-Behandlungen bei uns verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht.»
Mit «Jawline» meint der Co-Gründer der Zürcher Klinik Tiefenbrunnen, die auf Plastische und Ästhetische Chirurgie spezialisiert ist, die Kante, die sich vom Kieferwinkel bis zum Kinn erstreckt. Der untere Teil der Gesichtspartie sei zum Unisex-Thema geworden: «Frauen sind zwar immer noch in der Mehrzahl. Aber seit Corona kommen deutlich mehr Männer, vor allem Manager.»
Mehr Geld, mehr Erholungszeit
Warum ist die Beauty-Baustelle Kinn plötzlich so gefragt? Leu vermutet dies: «Corona hat mehr Video-Calls gebracht, was die Kinnpartie sichtbarer macht. Wer sich im Video-Call nach unten neigt, betont damit sein Kinn mehr als sonst.»
Leu ist nicht der Einzige, dem die Kinn-Konjunktur auffällt. Auch Werner Mang, Deutschlands berühmtester Schönheitschirurg, berichtet davon. Vom «Spiegel» jüngst nach Corona-Trends befragt, meinte der Gründer der Lindauer Bodenseeklinik und Kreator der famosen «Mang-Nase»: «Ich würde sagen, das Doppelkinn bei Männern ab fünfzig Jahren.» Die Anfragen nach Korrekturen, so Mang, «haben deutlich zugenommen, meist sind es Manager, Politiker, Lehrer. Diese Anfragen hatten wir vor der Pandemie überhaupt nicht.»
«Oft kommen Kundinnen mit Instagram-Bildern von Kim Kardashian.»
Neben den Video-Calls sieht Lucas Leu zwei weitere Gründe für die Karriere des Kinns: «Weil die Leute kaum Auslandferien machen, haben sie Geld gespart, das sie nun für den lang gehegten Wunsch nach einer optimierten Jawline einsetzen können.»
Zusätzlich führt Leu an, dass sich die zwei- bis dreiwöchige Erholungszeit, die nach einem grösseren Eingriff anfällt, nun wegen Corona besser planen lasse: «Kaum gesellschaftliche Anlässe, kaum Live-Meetings und Kongresse – so steht man in der Erholungszeit weniger in der Öffentlichkeit. Und wenn man doch mal nach draussen geht, hilft die Maske, Schwellungen zu verbergen.»
Warum das Kinn, das bisher in der Beauty-Welt nach Augen und Nase sozusagen bloss die dritte Geige spielte, wichtig ist, kann Leu genau sagen: «Wer jugendlich aussehen will, muss neben der Augenpartie im unteren Drittel des Gesichts ansetzen: bei der Jawline.»
So sieht es auch Alexandra Lüönd: «Gerade bei Männern wirkt eine kantige und maskuline Kieferpartie attraktiv und männlich», sagt die Gründerin und CEO der Schönheitsklinikkette Beauty2go, die mit Standorten in Zürich, Bern, St. Gallen und Luzern vertreten ist. Lüönd traut dem Kinn-Boom Langzeitwirkung zu: «Schon vor Corona merkten wir: Die Jawline liegt im Trend – und der Trend hält an.»
Die «Handelszeitung» legte der Beauty-Unternehmerin Bilderlisten mit Schweizer Businessköpfen vor. Lüönd fiel bei den Frauen PKZ-Chefin Manuela Beer auf: «Sie hat eine definierte und harmonische Kinn- und Kieferlinie, welche sehr schön zu ihrem Gesicht passt.» In der Herrenwelt votiert Lüönd für Ex-Sunrise-Chef Olaf Swantee: «Er hat ein markantes Kinn, das lässt ihn dynamisch und anpackend wirken.»
Wunsch: Ein Kinn wie Kylie
Alexandra Lüönd fällt der Trend zur Jawline-Optimierung auch bei jüngeren Leuten auf, die zum Teil mit sehr konkreten Vorstellungen in die Beauty2go-Studios kämen: «Bei den Millennials ist die Kinn-Kiefer-Korrektur sehr beliebt. Oft kommen Kundinnen mit Instagram-Bildern von Bella Hadid, Kim Kardashian oder Kylie Jenner und wünschen sich eine ebenso harmonische Jawline.»
Am stärksten nachgefragt werde von der jüngeren Generation die minimalinvasive Behandlung, da sie mit wenig Zeitaufwand verbunden sei und keine Ausfallzeit entstehe. Eine Jawline-Korrektur mit Hyaluronsäure-Unterspritzung hält gemäss Lüönd 12 bis 18 Monate: «Es genügen zwei Spritzen, eine links und eine rechts. Kostenpunkt: 840 Franken.»
In der Zürcher Klinik Tiefenbrunnen, sagt Leu, kenne man verschiedene Behandlungstiefen, «entweder minimalinvasiv mit resorbierbaren Hyaluron-Fillern – oder operativ im Rahmen eines Hals-Face-Liftings.» Der letztere Fall kann als Rolls-Royce der Kinn-Attraktivitätssteigerung gelten: «Mit einem dreitägigen Klinikaufenthalt, einer mehrstündigen Operation und Nachkontrollen kommt eine optimierte Jawline im Rahmen eines Hals-Face-Liftings auf 20 000 bis 25 000 Franken» zu stehen, sagt Leu. Es geht auch günstiger: «Eine Filler-Behandlung, deren Resultate sechs bis zwölf Monaten halten, kostet rund 1000 Franken.»