Warum?
Sie deckt grössere Teile der Bevölkerung ab. Wir haben mit der FDP eine wirtschaftsliberale Kraft, die es zuletzt in der Bundesregierung nicht gab. Wir haben mit den Grünen eine der wertkonservativsten Parteien überhaupt in Deutschland, die vor allem für die Ökologie steht. Die Grosse Koalition hat sich sehr stark auf die Mitte konzentriert. Das mag auch einer von mehreren Gründen sein, warum die Ränder stärker geworden sind. Dass wir jetzt nach 60 Jahren wieder eine nationalistische Partei im Bundestag haben, belastet mich. Wie kann eine Partei, die sagt, wir Deutschen unter uns seien gut genug und brauchten keine anderen, fast 13 Prozent der Bevölkerung erreichen? Unser Land ist wohlhabend geworden durch den Export. Aber Globalisierung ist keine Einbahnstrasse. Deshalb sollte man auch auf der Gegenfahrbahn tolerant sein. Abschottung und Nationalismus schaden uns.
Schadet der Erfolg der AfD der Marke Deutschland?
Das glaube ich nicht. Wir sehen ja quer durch Europa, dass es politische Sammelbecken für Menschen gibt, die Angst vor der Zukunft haben und sich allein gelassen fühlen. Das müssen wir ernst nehmen und Antworten finden.
Ist der Verkauf von Alstom an Siemens ein erster Schritt, dass Europa unter Emmanuel Macron und Angela Merkel nun wieder an Fahrt gewinnt? Bis vor kurzem wäre es völlig undenkbar gewesen, dass Frankreich sein Industriejuwel mit der Ikone TGV einem ausländischen Konzern preisgibt.
Es ist erfreulich, dass Präsident Macron, aber auch Finanzminister Le Maire und andere erkannt haben, dass Kräfte gebündelt werden müssen. Es ist wichtig, dass wir unseren Blick auf die globale Weltordnung richten und nicht kleinstaatlich handeln dürfen, wenn es um die globale Wettbewerbsfähigkeit geht. In der Weltwirtschaftsordnung braucht es eine dritte Kraft neben China und den USA. Und das sollte Europa sein.
Eine Kooperation von Siemens mit der Schweizer Stadler Rail war einmal ein Thema. Ist die nun nach dem Kauf von Alstom vom Tisch?
Wir kooperieren ja verschiedentlich – selbst wenn wir Wettbewerber sind – mit Stadler Rail, etwa auch immer wieder in Deutschland. Die Branche ist sehr arbeitsteilig. Auch nach dem Zusammenschluss mit Alstom wird es hoch spezialisierte und starke Wettbewerber in Europa geben.
Sie haben US-Präsident Donald Trump als einer der ersten europäischen Manager nach der Wahl kennen gelernt. Ist seine Industriepolitik eine Bedrohung für Europa?
Wenn er sagt, er wolle, dass das Land zu alter Stärke zurückfinde, dann nehme ich ihm das ab. «America First» ist nichts anderes als seine Art, auf die Verfassung zu schwören. Das machen fast alle Staatsoberhäupter. Deshalb ist gegen «America First» auch nichts einzuwenden. Schlecht wäre nur, wenn aus «First» ein «Only» würde. Das wäre eine sehr eigenartige Interpretation von freiem Wettbewerb.
Inwiefern?
Man sollte schauen, woher die bemängelten Handelsdefizite kommen. Wenn es unfaire Praktiken sind, dann muss man die natürlich abstellen. Aber wenn es an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit liegt und die Kunden lieber deutsche Autos und Maschinen kaufen als amerikanische, dann sind Zölle und Einfuhrbeschränkungen eine schlechte Lösung. Wenn man den Kunden zwingt, das zweitbeste Produkt zu kaufen, gefährdet man langfristig die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Und wenn die Kunden unzufrieden sind, dann sind sie es auch als Wähler.
Was raten Sie Exportnationen wie Deutschland oder der Schweiz im Umgang mit der US-Administration?
Typischerweise kauft das Weisse Haus ja nicht ein. Die Kunden werden weiterhin ihre Präferenzen haben. Für uns steht der Kunde im Mittelpunkt. Und die meisten akzeptieren eine Beschränkung ihrer Wahlfreiheit auf dem Markt nicht so gerne.
Und als Arbeitgeber in den USA?
Wir beschäftigen in den USA fast 60 000 Mitarbeiter, wir haben über 40 Werke dort. Deshalb sind wir sehr zügig auf die lokalen Gouverneure und Volksvertreter zugegangen. Die haben ein ganz anderes Gefühl dafür, welchen grossartigen Beitrag unsere Firma in ihrer Community leistet – durch Arbeitsplätze, Ausbildung und gesellschaftliches Engagement. Das sind die Garanten für Stabilität.
Trump wie AfD wurden zu grossen Teilen von Leuten gewählt, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen. Wird die vierte industrielle Revolution diesen Trend nicht noch beschleunigen?
Ja, die Digitalisierung wird unsere Gesellschaft sehr stark beinflussen. Deshalb müssen wir die Menschen mitnehmen und den Nutzen von Digitalisierung erklären. Sonst kann es gefährlich werden. Digitalisierung ist nicht neu, die gibt es seit über 30 Jahren, aber jetzt erreicht das Internet eben die Industrie mit ihren Millionen Arbeitsplätzen. Das Internet eliminiert die Mittelsmänner, die keinen oder geringe Beiträge zur Wertschöpfungskette leisten. Sie werden nicht nur reduziert, sondern komplett eliminiert. Nehmen Sie den Buchhandel und Amazon als Beispiel. Das heisst, es gibt fast nur noch Gewinner und Verlierer, aber kaum mehr Mittelfeld. In der analogen Welt war man im Mittelfeld immer am sichersten.
Mindestens am bequemsten.
Stimmt, am bequemsten. Und man kam damit durch. Jetzt geht die Digitalisierung genau auf diese Mittelmässigkeit: Wer sich dort mehr anstrengt, wird zu den Gewinnern gehören. Wer es nicht tut, wird alles verlieren.
Mit wie vielen Millionen verlorenen Arbeitsplätzen rechnen Sie?
Netto wird die vierte industrielle Revolution mehr Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen als heute. Aber wir werden viele Arbeitsplätze im heutigen Profil verlieren und mehr Arbeitsplätze mit anderem Profil gewinnen. So war es bei allen industriellen Revolutionen bisher – bei der Dampfmaschine, der Elektrifizierung und der Automatisierung. Die Welt ist jedes Mal besser geworden.
Aber ist das mit der heutigen Welt vergleichbar?
Was in der Tat anders geworden ist: Die Stimmen des Verdrusses vereinigen sich im Internet und protestieren gegen diese Entwicklungen. Das sehen Sie heute schon in den sozialen Netzwerken. Und es wird trotz aller Anstrengungen auch Verlierer geben. Denen müssen wir helfen und dürfen sie nicht alleine lassen.
Sie denken an ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Damit wird es gerne verwechselt, aber das ist völlig falsch – man muss sich schon auch selbst anstrengen. Es geht beispielsweise eher um eine anständige Altersversorgung. Die meisten Menschen sparen für null Zinsen. Das ist ein Riesenfehler.
Was also schlagen Sie vor?
Wir müssen die Aktienkultur viel stärker fördern und die Mitarbeiter am Firmenerfolg beteiligen. Sie müssen spüren: Wenn es meinem Unternehmen gut geht, habe ich davon einen Vorteil und langfristig auch eine Absicherung im Alter. Wir haben seit Jahren ein Programm, wonach jeder Mitarbeiter für drei gekaufte Siemens-Aktien nach drei Jahren von der Firma eine weitere dazubekommt. Das nutzen mittlerweile 165 000 Mitarbeiter, also fast die Hälfte! Und das Management muss vorangehen: Die 4000 obersten Kader müssen maximal sechsmal ihr Jahresfixgehalt an Aktien halten. Wenn es der Firma schlecht geht und der Kurs sinkt, müssen sie aus eigenen Mitteln entsprechend nachkaufen.
Was halten Sie von der Idee einer Robotersteuer, die unter anderem Bill Gates vorgeschlagen hat und die die Effizienzsteigerung durch Automatisierung umverteilen soll zugunsten der eingesparten Arbeitnehmer?
Herr Gates bemüht sich mit seiner Stiftung ja sehr um die Gesellschaft. Das ist gut. Aber ich frage mich, warum er nicht vor 30 Jahren eine Softwaresteuer forderte, als Office und Windows ihn reich und viele in der Verwaltung arbeitslos machten? Aber Bill hat richtig erkannt, dass man Steuern neu begreifen muss.
Konkret?
Man muss sich überlegen, welche Unternehmen wirklich einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Ich habe zum Beispiel nichts gegen Hedge Funds, die durch hochintelligente Modelle und Menschen Milliardenvermögen erzielen. Aber man muss sie ganz anders besteuern als eine Firma, die Hunderttausenden Menschen einen Arbeitsplatz gibt und Sozialversicherungsbeiträge zahlt. Dann akzeptiert die Gesellschaft auch mehr, dass es so viele Millionäre gibt.
Wie weit ist Siemens mit der Digitalisierung des Konzerns?
Im Vergleich zum Wettbewerb sind wir echt stark und weiter als alle in der Branche. Aber am Ziel sind wir noch nicht. Das ist man eigentlich nie.
Weiter als ABB und GE? Woran machen Sie das fest?
Man muss ja nur die Zahlen anschauen. Wer hat eine Digitalsparte – bei uns heisst sie Digitale Fabrik –, und wer hat keine? Wer veröffentlicht die Gewinn- und Verlustrechnung dafür und wer nicht? Dann sieht man schon recht gut, wer vorne ist und wer anschliessend kommt.
ABB hat einen Chief Digital Officer, Siemens nicht. Warum nicht?
Bei uns weiss jeder in den Geschäften, was zu tun ist. Wir brauchen keinen Einpeitscher, der dafür sorgt, dass das erkannt wird. Digitalisierung betrifft alle Geschäfte und muss dort zusammen mit unseren Kunden gestaltet werden.
Sie sind der grösste industrielle Arbeitgeber der Schweiz. Wegen des starken Frankens haben Sie 150 Stellen ins Ausland verlagert. Welche Zukunft hat der Standort Schweiz?
Die Gebäudetechnik mit Sitz in Zug ist eine der Erfolgsgeschichten von Siemens. Wir haben lange gebraucht, bis wir ihr Potenzial realisieren konnten. Gebäudetechnik ist eine der Branchen, die am stärksten von der Digitalisierung profitieren. Und die Schweiz hat eine der besten Kombinationen an Ressourcen und Talenten, die es überhaupt gibt. Von daher hat der Standort eine grosse Zukunft.
Siemens ist traditionell ein Mischkonzern. Sie haben verschiedene Sparten verselbständigt, etwa Windkraft oder Gesundheitstechnologie. Wiegen die Vorteile der Selbständigkeit heute mehr als die Skaleneffekte durch Zentralisierung?
Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Mitarbeitern und Geschäften mehr Freiheiten geben und als Zentrale loslassen müssen. Weniger Regeln, mehr Eigenverantwortung. Das macht uns schneller in einem sich ständig und mit extrem hoher Geschwindigkeit verändernden Wettbewerbsumfeld.
Also ist die Zeit der Konglomerate vorbei?
Konglomerate alter Prägung werden nicht sonderlich viel Chancen haben, sich zu behaupten, weil sie zu breit, zu langsam und zu prozessgetrieben sind. Sie müssen ja nur deren Aktienkursentwicklungen anschauen, dann wissen Sie, was die Welt davon hält!
Bei Ihrem Rivalen ABB fordert der aktivistische Investor Cevian ebenfalls eine Verselbständigung der Division Stromnetze.
ABB ist ein starker Wettbewerber in diesem Bereich. Aber die müssen selber wissen, was sie behalten und was sie verkaufen wollen.
Wären Sie interessiert, sollte die Sparte auf den Markt kommen?
Die Frage stellt sich doch aktuell nicht. Fragen Sie mich wieder, falls die Sparte auf den Markt kommt.
Ist Siemens als Holding ein Fernziel?
Ich glaube nicht, dass eine reine Finanzholding einen Wertbeitrag leistet.
Sind Sie auf Peter Löscher, heutiger Sulzer-Präsident und Ihr Vorgänger bei Siemens, eigentlich noch sauer?
Nein, war ich nie. Warum sollte ich?
Weil er Sie im Bieterwettbewerb dazu gebracht hat, für Dresser-Rand 7,8 Milliarden Dollar zu zahlen.
Ich wurde ja nicht gezwungen, das zu machen. Natürlich haben wir die Firma aus heutiger Sicht auf dem Peak des Ölpreises gekauft.
Also ein Fehlkauf.
Der strategische Grund für den Kauf hat trotz der Widrigkeiten immer noch seine Gültigkeit: Die Öl- und Gasindustrie ist noch weitgehend analog. Siemens kann dabei helfen, diese Branche zu automatisieren und zu digitalisieren. Da steckt enormes Potenzial drin. Dresser-Rand ist eine anerkannte Premiummarke in diesem Sektor, und wir nutzen ihren starken Marktzugang. Was wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist: Die Branche ist erzkonservativ. Für die Umsetzung unserer auch von den Kunden als richtig erkannten Idee brauchen wir einen längeren Atem, als wir ursprünglich dachten.
* Joe Kaeser (60) aus dem niederbayrischen Arnbruck ist seit August 2013 Chef von Siemens. Mit 350 000 Mitarbeitern und 80 Milliarden Euro Umsatz ist Siemens fast dreimal so gross wie Rivale ABB. Joe Kaeser (eigentlich Josef Käser) verbrachte nach dem BWL-Studium in Regensburg seine ganze Karriere beim Elektrokonzern. Bevor er den CEOJob vom jetzigen Sulzer-Präsidenten Peter Löscher übernahm, amtete er zwei Jahre als Strategie- und sieben Jahre als Finanzchef von Siemens. Kaeser sitzt zudem in den Boards von Daimler, der Allianz und der niederländischen NXP Semiconductors.
Dieser Artikel erschien in der November-Ausgabe (11/2017) der «Bilanz».