Wer die finanzpolitische Diskussion in der Schweiz verfolgt, erhält öfters den Eindruck, die Schweiz sei mit ihrer tiefen Schuldenquote eine Ausnahme. Weit gefehlt. Die grosse Mehrheit der kleinen Länder hat eine Schuldenquote, die unter 45 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt. Dänemark, Schweden, Litauen und Estland haben sogar Schuldenquoten, die tiefer liegen als diejenige der Schweiz. Selbstverständlich gibt es auch bei den kleinen Ländern Ausnahmen. Belgien beispielsweise hat eine Schuldenquote, die über 100 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) liegt.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Der Blick über die Grenze offenbart eine weitere Lehre, eine beunruhigende. Die Divergenzen zwischen den Ländern nehmen weiter zu. Länder mit einer hohen Schuldenquote hatten im letzten Jahr Rechnungsabschlüsse, die die Schuldenquote weiter steigen lassen. Länder mit einer tiefen Schuldenquote hatten im letzten Jahr Rechnungsabschlüsse, welche die Schuldenquote weiter sinken lassen. Die Divergenzen haben bereits im letzten Jahrzehnt zugenommen. Das macht es der EU schwer, einheitliche Ziele festzulegen. Es würde Jahrzehnte dauern, bis beispielsweise Frankreich und Italien das Schuldenziel von 60 Prozent des BIP erreichen. 

Der Gastautor

Serge Gaillard ist Ökonom und ehemaliger Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung.

Was unterscheidet die Länder mit einer stabilen von denjenigen mit einer steigenden Schuldenquote? Dazu gibt ein Blick nach Frankreich interessante Hinweise. Dort ist die Schuldenquote in den letzten 15 Jahren von rund 65 Prozent auf 110 Prozent gestiegen. 

Erstens wurden in Frankreich viele neue Projekte und auch Steuersenkungen beschlossen, ohne gleichzeitig die Finanzierung sicherzustellen. Solche erklären gemäss Berechnungen des OFCE, einem Konjunkturforschungsinstitut in Paris, fast die Hälfte der Schuldenzunahme. Offenbar ist es für die Politik häufig attraktiver, neue Projekte einzuführen, als deren Finanzierung zu sichern.

Die andere Hälfte der Schuldenzunahme wird durch die verschiedenen Krisen (Covid, Energie) erklärt, welche diese Periode geprägt haben. Schulden nehmen in Krisen stets zu. Das ist fast unvermeidlich. Damit die Schuldenquote mittelfristig trotzdem stabil bleibt, sollte sie aber in guten Zeiten abnehmen. Schuldenregeln sollten deshalb in guten Zeiten für eine Abnahme der Schuldenquoten sorgen, und nicht lediglich für deren Stabilisierung. 

Und die Schweiz? Die Schuldenbremse verhindert, dass diese zwei Fehler passieren. Erstens müssen neue Projekte gleichzeitig mit der Einführung finanziert werden, durch Einsparungen oder durch zusätzliche Steuern. Damit dieses Prinzip nicht durchbrochen wird, müssen «ausserordentliche Zeiten» restriktiv definiert werden. Und Fonds dürften nicht dazu dienen, die Ausgabenregeln zu umgehen. 

Zweitens stellt die Schuldenbremse sicher, dass die Schuldenquote in guten Zeiten abnimmt. Sie stabilisiert die Schulden. Damit ist sichergestellt, dass ihr Anteil am Bruttoinlandprodukt in «normalen» Zeiten abnimmt. Damit entsteht vorsorglich Spielraum für spätere Krisen. Solange diese zwei Regeln eingehalten werden, wird die Schweiz im Lager der stabilen Länder verbleiben.