Guy Verhofstadt ist Anführer der liberalen ALDE-Fraktion im EU-Parlament. Der Belgier, der Amtitionen für den Präsidentenposten als Nachfolger von Martin Schulz hegt, zählt zu den schillerndsten Persönlichkeiten im europäischen Politbetrieb. Er sorgt dort mit impulsiven Reden regelmässig für Aufsehen. Verhofstadt ist ausserdem als Unterhändler des EU-Parlaments für den Brexit zuständig.
Die «Handelszeitung» hat Verhofstadt im Dezember in Strassbourg besucht – und mit dem ehemaligen belgischen Premierminister, der auch am diesjährigen Alpensymposium in Interlaken am 10. Januar zu Gast ist ist, über die Zukunft der Europäischen Union gesprochen. Dabei liess Verhofstadt auch durchblicken, wie das Verhältnis der EU zur Schweiz künftig aussehen könnte.
Herr Verhofstadt, er ist eigentlich unbeliebter in Brüssel: die Schweiz oder Grossbritannien?
Guy Verhofstadt: Die Schweiz ist nicht unpopulär. Um die Personenfreizügigkeit gibt es Diskussionspunkte, klar. Doch die Schweiz bleibt mit der EU über Dutzende von Verträgen eng verbunden. Grossbritannien ist per se auch nicht unpopulär. Anders als bei der Masseneinwanderungsinitiative geht es beim Brexit aber ums Eingemachte. Für die EU geht es um Sein oder Nichtsein.
Warum?
Die Zeit ist da, fundamentale Fragen zu stellen. Welche Funktion hatte die Europäische Union in der Vergangenheit? Was soll sie in Zukunft darstellen? Man muss das Europäische Projekt neu aufgleisen. In ihrer jetzigen Form funktioniert die Union nicht. Wir müssen sie neu erfinden.
Als Wirtschaftsunion ohne Personenfreizügigkeit?
Nein. Die Personenfreizügigkeit ist ein integraler Bestandteil des Europäischen Binnenmarkts. Jede andere Vorstellung wäre absurd. In den USA käme niemand auf die Idee, dass man einen New Yorker daran hindern sollte, in Oregon oder in Kalifornien zu arbeiten.
Braucht es die Personenfreizügigkeit wirklich?
Schauen Sie: In Europa können Güter, Dienstleistungen und Kapital die Grenzen frei überqueren. Warum sollen Arbeitskräfte dies nicht tun? Die vier Freiheiten im Binnenmarkt gehören zusammen. Und zwar nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Es wäre positiv, wenn die Europäer geografisch mobiler wären. Das BIP wäre 2 bis 3 Prozent höher. Zwei Millionen offene Stellen können in der EU nicht besetzt werden, weil die Bewerber in einem anderen Land wohnen. Wir sollten die grenzüberschreitende vereinfachen, nicht erschweren.
Der Think Tank Bruegel meint: Der Binnenmarkt funktioniert auch ohne Personenfreizügigkeit.
Das Papier, das Sie ansprechen und das im August publiziert wurde, war das unpopulärste Papier, das in der EU überhaupt jemals produziert wurde. Niemand unterstützt es.
Vielleicht nicht in Brüssel. Anderswo findet die These aber Anklang.
Wenn das so ist, dann liegt das auch an der Angstmacherei mancher Politiker. Es ist nicht so, dass die Leute in Europa eines Morgens aufgewacht sind und plötzlich gesagt haben: «Ah, ich fürchte mich vor Immigranten, die nehmen meinen Job weg.» Offene Grenzen schaffen Wohlstand. Europas Probleme rühren nicht von der Personenfreizügigkeit her – sondern von völlig anderen Dingen.
Wovon?
Davon, dass die EU keine richtige Union ist. Immer wenn es Probleme gibt, kommt die EU zu spät und macht zu wenig. Die Finanzkrise liegt nun schon acht Jahre zurück. Trotzdem sind die Banken immer noch nicht von faulen Krediten gesäubert. Auch in der Griechenland- und in der Flüchtlingskrise hat die Union keinen guten Job gemacht.
Warum ist die EU so krisenanfällig?
Das Problem ist das Einstimmigkeitsprinzip – der so genannte Luxemburger Kompromiss: Immer wenn ein Land geltend macht, eines seiner «vitalen Interessen» sei tangiert, kann es auf Einstimmigkeit pochen und unliebsame Entscheide blockieren. Um handlungsfähig zu sein, kann die EU aber nicht immer auf jeden Sonderwunsch Rücksicht nehmen. Sie muss Beschlüsse nach dem Mehrstimmigkeitsprinzip fällen können. Nehmen Sie die Flüchtlingskrise: Die EU ist einen schmutzigen Deal mit der Türkei eingegangen und hat sich von ihr abhängig gemacht – nur, weil man sich nicht auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen konnte.
Jetzt will die EU ihre Grenzagentur selbst aufrüsten.
Ja, aber es geht um ein sehr bescheidenes Engagement: 250 Millionen Euro. Die USA wenden pro Jahr über 30 Milliarden Dollar für ihre Küstenwache auf.
Wie kriegt man souveräne Staaten dazu, ihr Vetorecht abzugeben?
Solche Prozesse kommen nur unter Druck in Gang. Als Premier von Belgien lancierte ich 2003 nach dem Irakkrieg die Idee einer gemeinsamen Verteidigungsunion. Alle sagten: Du bist verrückt. Heute ist die Verteidigungsunion auf dem Tisch. Politiker handeln leider erst an dem Tag, an dem sie mit dem Rücken zur Wand stehen und es zu Krisen, Unfällen und Tragödien kommt.
Ist Europa heute von Feinden umzingelt – Putin, Trump, Erdogan?
Ja. Der «Ring der Freunde», wie ihn der ehemalige EU-Sekretär Javier Solana nannte, wurde ersetzt durch einen Ring von Autokraten. Die Zeiten haben sich gewandelt, und zwar nicht erst seit Donald Trump gewählt wurde. Schon unter Obama haben sich die USA vermehrt zurückgezogen. Sie sagten: Syrien, das ist euer Problem. Libyen, das ist euer Problem. Die Ukraine, das ist euer Problem.
Von Jacques Rueff stammt das Zitat: «L’Europe se fera par la monnaie» – Europa wird durch die Währung vereint. Lautet die neue Losung: «L’Europe se fera par la défense»?
Die Verteidigungsunion ist der nächste grosse Schritt. Es wäre auch ein Schritt in Richtung mehr Effizienz. Zählt man das totale Militärbudget aller europäischen Länder zusammen, kommt man auf 40 bis 45 Prozent der amerikanischen Militärausgaben. Die operationelle Reichweite liegt dagegen bloss bei 15 Prozent im Vergleich zu den USA. Würden die Europäer alle bilateralen und regionalen Kooperationen – zwischen den Benelux-Staaten, in Skandinavien, zwischen Deutschland und Frankreich, etc. – unter einem gemeinsamen Eurocorps-Dach mit vereinter Führungsstruktur und Beschaffung zusammenlegen, könnten sie mit demselben Aufwand dreimal mehr leisten.
Bedeutet eine Verteidigungsunion automatisch auch eine engere politische Union?
Logisch. Die Verteidigungsunion knüpft an die ursprüngliche Idee der Gründungsväter an. Sie dachten die EU in den fünfziger Jahren als umfassendes Projekt – politisch, militärisch, ökonomisch. Der Vertrag von Rom von 1957 fiel hinter diese Idee zurück, weil sich die französische Nationalversammlung dagegen ausgesprochen hatte. Statt einer politischen Union gab es bloss eine Zollunion. Sechzig Jahre später ist aber klar, dass dieses Konzept nicht funktioniert. Die EU ist in ihrer heutigen Form nicht fit für die Globalisierung von morgen. Sie vermag die Nebenwirkungen nicht aufzufangen.
Eine EU der Sicherheit: Ist das Ihr Rezept gegen den Populismus?
Es ist das einzige Rezept gegen den Populismus. Eine derartige Reform könnte viele Bürger mit der europäischen Idee versöhnen. Die Alternative ist, gegenüber dem Populismus nachzugeben, so wie es viele Mainstream-Parteien in Europa im Moment machen. Sie sagen: «Wir stimmen zwar nicht überein mit dem Populismus, aber vielleicht stimmt es doch ein bisschen, was die Populisten sagen.» Damit treten sie den Populisten aber nicht entgegen, sondern stärken diese nur.
Haben die Populisten denn völlig Unrecht?
Natürlich nicht. In der EU gibt es Probleme. Aber sie lassen sich nicht lösen, indem man den allmächtigen Nationalstaat der Vergangenheit glorifiziert.
Populisten sprechen reale, ökonomische Probleme an: Stagnation, Abstiegsangst. Was kann ein vereintes Europa da bieten?
Das neue Europa darf nicht nur Fiskalregeln festlegen, sondern auch gemeinsame soziale Standards. Es darf nicht nur um Wettbewerbsfähigkeit gehen, sondern auch um soziale Kohäsion und Inklusion. Um minimale Renten, um den Kampf gegen Steueroasen, um Investitionsefforts. Viele Menschen verbinden mit Europa momentan nicht mehr als Vorschriften für einen ausgeglichenen Finanzhaushalt. Sie fragen: «Was macht dieses Europa für mich?» und denken dabei: «Nicht viel.»
Sie sind Chef der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament. Was bedeutet Liberalismus?
Liberale Politik beinhaltet eine weitreichende soziale Komponente. Während zu langer Zeit wurde nur über Wirtschaftswachstum gesprochen. Aber das ändert sich jetzt. Liberale sind auch nicht dumm. Sie sehen ein, dass die Gewinne der Globalisierung überproportional an jene Leute an der gesellschaftlichen Spitze gingen. Wenn das so weiter geht, werden wir nie aus der Krise finden. Dann werden sich gewöhnliche Leute nie mit dem modernen Leben aussöhnen.
Ihr Plädoyer klingt irgendwie nach Hillary Clinton. Aber die Donald Trumps dieser Welt zu schlagen, reichen solche Beteuerungen nicht. Es braucht authentische Politiker wie einen Bernie Sanders.
Die Wahl von Trump war in erster Linie eine Reaktion gegen die Elite, die in Washington regiert. Eine Reaktion gegen Leute wie Hillary Clinton, die schon einmal als First Lady im Weissen Haus war. Die Leute haben Politiker-Dynastien wie die Clintons oder die Bushs satt. Und sie haben Recht. Wenn einzelne Familien die Politik über lange Zeit dominieren, ist das nie gut.
Ein anderer Demokrat hätte Trump also geschlagen?
Am Ende kann man gegen einen Trump nur gewinnen, indem man selbst eine konsistente, positive und starke politische Vision entwickelt. Bei Hillary Clinton hat diese Vision gefehlt. Ihre zentrale Botschaft war: Lasst uns so weitermachen wie bisher. Das war ihr Fehler.
Sie wollen als EU-Parlamentspräsident andere Töne anschlagen?
Meine Kandidatur ist noch nicht zu 100 Prozent sicher. Das generelle Ziel muss lauten, die Rolle des Parlaments in der Europäischen Demokratie stärken. Dass die EU «in der Scheisse steht», liegt auch daran, dass es in Europa keine erwachsene Demokratie gibt. Das Parlament existiert zwar seit mittlerweile fast vierzig Jahren, hat aber nur beschränkte Rechte. Es kann Ausgaben, aber keine Einnahmen beschliessen. Wir haben keine volle Untersuchungsbefugnis. Die Chefs der Mitgliedsstaaten sehen das Parlament nicht als gleichwertige Instanz. Das muss sich ändern.
Kommt Marine Le Pen im Mai an die Macht, so sind dies alles sehr ferne Visionen.
Ich hoffe nicht. Nationalismus und Populismus mögen zwar im Aufwind sein. Aber auch andere Kräfte erhalten Zustrom. In Spanien, Tschechien und Polen sind neue, liberale Parteien erfolgreich unterwegs. Liberale Parlamentarier sollten gemäss Umfragen 100 Sitze im Parlament erobern. Mehr und mehr Menschen nehmen Notiz von unserem Pro-Europäischen Reformprogramm.
Welche Rolle hat die Schweiz in diesem reformierten Europa?
Das zu entscheiden, liegt an den Schweizern. Meiner Ansicht nach könnte die grosse Komplexität in den bilateralen Beziehungen vereinfacht werden – mit Gewinn für beide Seiten. Wenn ich die Schweiz besuche, zweifle ich nicht daran, dass ich in Europa bin. Die Schweiz gehört zur Familie.
Zur Europäischen Kernfamilie? Oder zur erweiterten Sippschaft?
Wenn es in Europa in den kommenden Jahren auf ein Modell der zwei Kreise hinausläuft, dann ist es gut möglich, dass sich die Schweiz irgendwann im äusseren Kreis wiederfindet – in derselben Gruppe wie Grossbritannien. Die EU würde dann aus Mitgliedern und aus Partnerstaaten bestehen. Anstelle der variablen Geometrie mit unzähligen Opt-Ins und Opt-Outs käme eine klare Struktur.
Was ist eine gute Strategie für die Schweiz? Nichts tun, bis klar ist, wie es mit dem Brexit läuft?
Nein, ich würde als Schweiz nicht nur Abwarten. Wir müssen in Europa eine Partnerschaftsform finden, die im Prinzip für diverse Länder anwendbar ist. Mit der Suche nach dieser Form können wir bereits anfangen, solange der Brexit-Prozess noch im Gang ist. Ich würde die Schweiz nicht als Nachahmer, sondern eher als Beispiel und Inspirationsquelle für Grossbritannien sehen.