Die deutliche Ablehnung des Brexit-Deals durch das britische Parlament bringt Anleger am Mittwoch nicht aus dem Tritt. Die Leitindizes Swiss Market Index (SMI) und der EuroStoxx50 tendierten am Mittwoch gegen Mittag jeweils rund 0,2 Prozent höher.
Und das Pfund Sterling verteidigte seine Kursgewinne vom Dienstagabend. Der Londoner Auswahlindex FTSE bröckelte in der Folge ab. Die dort notierten Konzerne leiden üblicherweise unter einer Aufwertung der britischen Währung, weil sie einen Grossteil ihres Geschäfts im Ausland machen.
«Die Märkte bleiben ruhig. Es hat den Anschein, als seien Händler und Investoren gut vorbereitet gewesen», sagte Chefstratege Michael McCarthy vom Broker CMC Markets.
Der Schweizer Franken reagierte ebenfalls kaum auf die Brexit-Neuigkeiten. Der Euro notiert am Mittwochmorgen mit 1,1273 Franken praktisch auf dem gleichen Stand wie noch am Vorabend. Der US-Dollar zeigt sich mit 0,9885 Franken nur unwesentlich teurer als am Dienstagabend.
Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung
In den nächsten Tagen halten Marktstrategen aber weiterhin Zurückhaltung für angebracht. Die Anleger dürften auch nach dem Nein im britischen Parlament zum Brexit-Vertrag mit der EU in Deckung bleiben, um die weitere Entwicklung abzuwarten. «Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung», kommentiert etwa Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank.
Die Grossbank UBS rät nach der Ablehnung des Brexit-Deals gar von Investitionen in dem Land ab. Anleger sollten ihr Engagement im Vereinigten Königreich begrenzen, da die Turbulenzen an den Finanzmärkten wegen der politischen Unsicherheiten anhalten könnten, teilte die Schweizer Bank mit. Die Volatilität werde so lange nicht verschwinden, bis der Austrittsprozess konkret werde.
Das britische Unterhaus votierte am Dienstagabend mit 432 zu 202 Stimmen gegen den über Monate mühsam mit der EU ausgehandelten, 584-Seiten langen Ausstiegsvertrag. Es ist die schwerste Niederlage für eine britische Regierung in der jüngeren Geschichte und das erste Mal seit 1864, dass das Parlament ein Abkommen der Regierung zu Fall bringt.
Völlig unklare Situation
Der Ausgang war erwartet worden, weil auch viele Abgeordnete von Mays konservativer Partei gegen das Abkommen waren. Unmittelbar nach der Abstimmung beantragte Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei ein Misstrauensvotum. Wenige Wochen vor dem geplanten Austritt aus der EU am 29. März steckt Grossbritannien damit in der schwersten politischen Krise seit einem halben Jahrhundert. Wie es mit dem Brexit weiter geht, ist unklar. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker warnte, das Risiko eines ungeordneten EU-Austritts sei gestiegen.
May sagte nach dem Votum, es sei nun deutlich, dass das Parlament die Vereinbarung ablehne. «Aber die Abstimmung von heute sagt uns nichts darüber, was das Parlament unterstützt.» Nun müsse deutlich gemacht werden, ob die Regierung immer noch das Vertrauen der Abgeordneten habe. Corbyn sagte, es handle sich um die grösste Niederlage einer britischen Regierung seit den 1920er Jahren. Er glaube nicht, dass May ein gutes Abkommen mit der EU aushandeln könne. Besonders umstritten war im Parlament die sogenannte Backstopp-Regelung, eine Notfall-Absicherung, die eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Land Irland verhindern soll.
Suche nach Ausweg
Vor der Abstimmung waren weitere Verhandlungen mit der EU und ein neuer Anlauf im Parlament, ein ungeregelter Austritt ohne Auskommen am 29. März, eine zweite Volksabstimmung über den Brexit oder ein Rücktritt von May diskutiert worden.
Die Premierministerin kündigte an, sich mit Vertretern aller Parteien zu treffen, um einen Ausweg zu suchen. Bereits am kommenden Montag wolle sie dem Parlament einen Plan B vorlegen, um einen chaotischen EU-Austritt Grossbritanniens doch noch zu verhindern, sagte sie. May kündigte zudem eine Erklärung bis Montag an. «Es ist meine Verpflichtung, beim Brexit zum Ziel zu kommen.»
Einem Sprecher von May zufolge lehnt die Regierungschefin einen Rücktritt ab. Zudem könne der Vertragsentwurf noch immer die Grundlage für ein Abkommen mit der EU bilden, sagte er.
Mays Gegner waren da anderer Meinung: «Dieser Deal ist tot», sagte Ex-Aussenminister Boris Johnson, der prominenteste Brexit-Hardliner und May-Kritiker in der konservativen Partei. Er forderte May auf, nach Brüssel zurückzukehren, um bessere Bedingungen auszuhandeln. Immerhin schien es so, dass May bei dem anstehenden Misstrauensvotum auf eine Unterstützung ihrer internen Kritiker zählen kann. Sowohl die nordirische Partei DUP, die Mays Minderheitsregierung toleriert, aber gegen den Brexit-Vertrag gestimmt hatte, als auch Gegner des Ausstiegsabkommens in der eigenen Partei kündigten an, sich hinter die Premierministerin zu stellen.
Keine Nachverhandlungen
EU-Kommissionschef Juncker bedauerte den Ausgang des Votums. Das Risiko eines ungeordneten EU-Austritts des Landes sei damit gestiegen, sagte er. Man hoffe den Weg zu vermeiden, bereite sich aber darauf vor. Das Vereinigte Königreich müsse nun seine Absichten so bald wie möglich klar machen: «Die Zeit ist beinahe abgelaufen.» EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte, dass die einzige gute Lösung für Grossbritannien ein Verbleib in der EU sein könnte: «Wenn ein Abkommen unmöglich ist und keiner einen Austritt ohne Abkommen will, wer wird dann letztlich den Mut haben, zu sagen, was die einzige positive Lösung ist?»
Die Hoffnung, dass die EU nun die Auffanglösung für Nordirland aus dem Brexit-Vertrag streicht oder zumindest zeitlich befristet, dürfte aber etwas verfrüht sein. «Es wird jedenfalls keine Nachverhandlungen zum Austrittsabkommen geben», bekräftigte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz die bisherige EU-Linie.
Britische Abgeordnete erwägen einem Insider zufolge nun einen Antrag, um das Ausstiegsverfahren nach EU-Artikel 50 zu verlängern. Regierungsminister hätten solche Planspiele für einen Brexit-Aufschub gegenüber Spitzenvertretern der Wirtschaft geäussert, sagt eine an den Gesprächen beteiligte Person.
In Brüssel wird früheren Angaben von EU-Vertretern seit einigen Wochen hinter den Kulissen eine Verschiebung des Austritts durchgespielt. Der Weg sei aber keinesfalls die bevorzugte Option. Durchaus möglich wäre eine Ausweitung um wenige Wochen aber nur dann, falls der Abschluss des Ausstiegsvertrags unmittelbar bevorstünde. Kompliziert würde die Sache durch die Wahlen zum EU-Parlament Ende Mai. Grossbritannien ist dann eigentlich nicht mehr dabei. Die Sitze der Parlamentarier von der Insel fielen weg.
Grossbritannien will die EU nach gut 45 Jahren Mitgliedschaft verlassen. Bis Ende 2020 gibt es eine Übergangsphase, in der dort noch EU-Recht gilt. Die Zeit, die notfalls um zwei Jahre verlängert werden kann, gilt aber nur, falls London vor dem Austritt den Scheidungsvertrag mit Brüssel unterzeichnet.
(sda/awp/me/tdr/mlo)