War es Moral? War es der innenpolitische Druck? Waren es Drohungen der westlichen Partner, gegen die Schweiz vorzugehen, sollte sie die Sanktionen nicht übernehmen? Oder war es kalkulierte Schadensbegrenzung?
Es ist nicht vollends klar, was den Bundesrat bewogen hat, die EU-Sanktionen vollständig zu übernehmen. Es geht im Wesentlichen um das sofortige Einfrieren von Vermögenswerten russischer Politiker, einschliesslich der Gelder von Putin, dessen Aussenminister und seiner Entourage. Die Massnahmen gelten ab Montag 18 Uhr.
Gemessen daran, was noch vor drei Tagen galt und jetzt neu gelten soll, ist die direkte Nennung Putins als sanktionierte Person eine ziemliche Eskalation aus der Sicht der politisch sogenannt neutralen Schweiz. Der Schritt dürfte nicht von Vorteil für ihre Vermittlerrolle sein. Sehr wahrscheinlich wird sich Putin jetzt von der Schweiz abwenden und andere Vermittler suchen, etwa die Türkei. Doch auch dort verschärft Präsident Recep Erdogan die Gangart, etwa indem er droht, den Bosporus für russische Schiffe zu sperren, weil sie eine Kriegspartei sind.
Gefahr von Retorsionsmassnahmen
Dass der Bundesrat heute die wirtschaftliche Neutralität abgelegt hat, dürfte eine Kombination der oben genannten vier Faktoren gewesen sein. Moralisch war es nicht zu rechtfertigen, dass die Schweiz Putin mit Samthandschuhen anfasst. Der innenpolitische Druck hat sicher eine Rolle gespielt. Denn ausser der SVP haben alle Parteien gefordert, den russischen Präsidenten hart zu bestrafen.
Doch der dritte Faktor, dass die EU und USA der Schweiz hinter den Kulissen mit Sanktionen drohen, dürfte der Hauptgrund gewesen sein. Würde der Verdacht aufkommen, dass die Schweiz Kriegsgewinnler sei oder dass sie Putins Entourage hierzulande wirtschaftlich gewähren lasse, könnte das Land Retorsionsmassnahmen durch Westländer ausgesetzt sein. So ähnlich geschah es während des Zweiten Weltkriegs. Die Schweiz diente sich sowohl den Alliierten als auch Hitler an. Ausländische Medien stellen diesen historischen Zusammenhang bereits her.
Schliesslich der vierte Faktor: Die kalkulierte Schadensbegrenzung. Bundesrat Ueli Maurer blieb nicht verborgen, dass die Banken sich bereits an US- und EU-Sanktionen halten, ohne dass die Schweiz solche verhängt hat. Die Vermögen der sanktionierten Personen sind de facto seit Freitag eingefroren. Auch können die sanktionierten russischen Banken seit Freitag nicht mehr ihren Geschäften nachgehen, selbst wenn sie ihren Sitz, wie die Gazprombank, in der Schweiz haben.
Offenbar Drehscheibe für Gaszahlungen Europas
Der heutige Schritt des Bundesrats hat also vorerst kaum Schaden verursacht. Man hat sich den Goodwill der USA und der EU gesichert. Den geringen Schaden betonte Maurer etwa dreimal an der Medienkonferenz: Die Direktinvestitionen der Schweiz in Russland sind klein, der Handel mit Russland im Weltvergleich minimal und grosse, ausstehende Schulden habe Russland für Schweizer Banken nicht. Die finanzielle Stabilität sei gewährleistet.
Was explizit auf Wunsch der EU weiter läuft, sind die Erdgaszahlungen über die Schweiz. Deutschlands hat dies verlangt. Die Schweiz spielt also «die guten Dienste» im Erdgashandel.
Die Folgen der heutigen Aufgabe der wirtschaftlichen Neutralität sind nicht abzuschätzen. Die offene Frage ist: Wird Russland die Schweiz jetzt als Feind ansehen und beispielsweise mit Cyberangriffen reagieren?
Abwegig sind solche Szenarien nicht. Sie stehen bereits auf der Risikoliste von Verteidigungsministerin Viola Amherd. Spätestens dann dürfte die Frage der wirtschaftlichen Neutralität wieder aufs Tapet kommen.
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3 Kommentare
Wer meint, die Schweiz hätte mut diesem Entscheid ihre Neutralität aufgegeben, hat nicht verstanden, was „Neutralität“ ist und bedeutet, und/oder hat keine ausreichende Urteilskraft und/oder hat soeieso nicht ausreichend Verstand. Ausserdem alles immer nur daran zu messen, ob die Schweiz mal wieder vermitteln kann, ist falsch und dumm. Das ist ein absolut untergeordneter Punkt.
Die Schweiz sollte eine Diskussion darüber führen was die Neutralität bedeutet u dabei zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterscheiden. Nur erstere -militärische Neutalität- ist relevant. Wirtschaftliche Neutralität-ausser beim Waffenhandel gibt es nicht. Seit den 90-iger Jahren hat sich die Schweiz immer an Sanktionen beteiligt. Eine Gesinnungsneutralität gibt‘s nicht. Auch nicht klar was die Schweiz -ausser Genf als Verhandlungsort - als Vermittler beitragen könnte. Rolf Jeker
Der Entscheid des Bundesrats