Wer beispielsweise die Geschäftszahlen des US-Autoherstellers Tesla näher betrachtet, sieht, dass der Abschwung bereits im dritten Quartal 2022 angefangen hatte: Die durchschnittlichen Verkaufspreise fallen seither, das Gleiche gilt auch für die Margen. Wenn der Umsatz 2023 noch weiter stieg, dann lediglich aufgrund der ausgeweiteten Absatzzahlen. Und selbst diese können trügerisch sein, wie die beiden Fachleute, die den sehenswerten Videoblog «Bilanzfluencer» bespielen, erklären, weil je nach Zeitraum (Jahr oder Quartal) und Tätigkeit eines Unternehmens wichtige Entwicklungen erst dann erkennbar werden, wenn man ausreichend tief in das Zahlenwerk vordringt.
Zuerst die Eckwerte und die Marge
«Für eine Ersteinschätzung bei einem Unternehmen, das ich bislang nicht kannte, schaue ich zunächst auf fünf Kennzahlen: Umsatz, Umsatzwachstum, Ebit, Ebit-Marge und Eigenkapitalquote», erklärt Oliver Köster, Director Audit and Assurance bei Deloitte in der Schweiz und einer der beiden Bilanzfluencer. «Der Umsatz gibt Aufschluss über die Grösse des Unternehmens.» Das Umsatzwachstum ermögliche einen Vergleich mit den Peers und zeige, ob das Unternehmen Marktanteile gewinnt und ob es mit dem Markt oder unterdurchschnittlich wächst.
«Am Ebit sehe ich, ob das Unternehmen mit seiner Geschäftstätigkeit profitabel ist», so Köster. «Auch anhand der Ebit-Marge – einer guten Effizienzkennzahl – lässt sich das analysierte Unternehmen mit seinen Peers vergleichen. Die Eigenkapitalquote ist für mich ein guter Gradmesser der finanziellen Stabilität.»
Selbst bei wichtigen Schlüsselkennzahlen haben Firmen gewisse Spielräume bei ihrer Berichterstattung. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «Bilanzpolitik». «Klassische Felder der Bilanzpolitik sind naturgemäss die Posten, bei denen grosse Unsicherheiten bestehen oder eine Einschätzung über die Zukunft vorgenommen werden muss», sagt Köster weiter. «Das sind beispielsweise Rückstellungen, Ausfallrisiken für Debitoren, Wertberichtigungen für Vorräte und Sachanlagen sowie Vermögenswerte, die zum beizulegenden Zeitwert anzusetzen sind.»
Eher längerfristiger Natur sind strategische Bilanzierungsentscheidungen, wie die Ausübung bestimmter Wahlrechte oder Nutzungsdauern des Anlagevermögens. «Weniger Spielraum gibt es insbesondere bei solchen Posten, bei denen es kaum Bewertungsfragen gibt, wie etwa bei liquiden Mitteln», sagt Köster.
Standards erschweren die Vergleiche
Hinzu kommen unterschiedliche Rechnungslegungsstandards. Kleinere und mittelgrosse schweizerische Firmen berichten meistens unter Swiss GAAP FER. In Europa ist IFRS weitverbreitet. In den USA gilt US-GAAP. «IFRS für europäische Unternehmen und die US-GAAP beruhen zwar beide auf dem Prinzip ‹True and Fair View› beziehungsweise geben ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens, doch es gibt etliche Unterschiede im Detail, die auch zahlenmässig zu gravierenden Abweichungen führen können», sagt Köster. «Bei der Analyse muss man sich dessen bewusst sein, die Unterschiede kennen und durch Schätzungen versuchen, diese vergleichbar zu machen.»
So dürfen Unternehmen, die den US-GAAP unterliegen, beispielsweise keine Entwicklungskosten aktivieren. «Vergleicht man nun zum Beispiel Tesla mit europäischen Automobilherstellern, muss man berücksichtigen, dass Letztere die Entwicklungskosten unter bestimmten Kriterien aktivieren müssen, was sich im Zeitpunkt der Entwicklung positiv auf ihr operatives Ergebnis auswirkt», sagt Köster.
Und bei Swiss GAAP FER gibt es eine im Vergleich zu den IFRS deutlich geringere Regelungsdichte. «Das heisst, Unternehmen sind häufiger gezwungen, eigene Bilanzierungspraktiken zu entwickeln», so Köster. «Viele Schweizer Unternehmen orientieren sich bei der Auslegung an den IFRS-Vorschriften, auch wenn dies nicht zwangsläufig notwendig ist.» Dadurch können sich erhebliche Unterschiede zu Unternehmen ergeben, die gemäss IFRS bilanzieren. «Zudem erschweren die geringeren Offenlegungsvorschriften der Swiss GAAP FER häufig die Vergleichbarkeit für Aussenstehende», beobachtet Köster in der Praxis.
Vergleiche zwischen Branchen sind schwierig
Hinzu kommen branchenspezifische Besonderheiten. «In jeder Branche ergeben sich aufgrund der Besonderheiten ihrer Geschäftsmodelle bestimmte Fragestellungen beziehungsweise Bilanzierungsprobleme», so Köster. «In der Automobilindustrie sind das sicherlich die Vorräte, die einen wichtigen Vermögenswert darstellen, aber eben auch die oben erwähnten Entwicklungskosten.» Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund der Transformation auf voll elektrifizierte Fahrzeuge bedeutsam, die eine vollkommen andere Wertschöpfung haben als Verbrenner.
Zudem bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen Branchen. «In der Pharmaindustrie sind beispielsweise die Entwicklungskosten noch bedeutender», sagt Köster. «Während Automobilhersteller rund 5 bis 7 Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung ausgeben, sind dies in der Pharmaindustrie 13 bis 16 Prozent.»
Allerdings würden sich im Gegensatz zur Automobilindustrie bislang keine selbstentwickelten Wirkstoffe in der Bilanz finden – das liegt an den hohen Unsicherheiten im Zulassungsverfahren. «So müssen nur erworbene Forschungs- und Entwicklungsprojekte als Vermögenswerte aktiviert werden», meint Köster. «Das macht es schwierig, verschiedene Unternehmen mit unterschiedlichen Entwicklungsansätzen miteinander zu vergleichen.»
Die Gremien, welche über die Standards wachen, wissen um das oftmals erklärungsbedürftige Treiben in der Praxis. «Die Standardsetzer beobachten laufend die gängige Bilanzierungspraxis und versuchen, die Aussagefähigkeit der Abschlüsse und deren Vergleichbarkeit zu verbessern», sagt Köster. «So hat das IASB gerade einen Entwurf veröffentlicht, der den Ermessensspielraum beim Werthaltigkeitstest für Goodwill einschränken soll.»
Nachhaltigkeit ist ein neues Thema
Hinzu kommt das Thema Nachhaltigkeit und Klimawandel. «Hierbei geht es um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Geschäftsmodelle von Unternehmen und deren finanzielle Konsequenzen», so Köster. «Dazu hat das IASB gerade einen Entwurf für die Offenlegung klimabezogener Unsicherheiten veröffentlicht, der Unternehmen helfen soll, aussagekräftigere Offenlegungen in diesem Bereich zu erzielen.»
Und auch bei den Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zeichnen sich Anpassungen ab. «Bei diesem wichtigen Forschungsprojekt geht es um die Behandlung von selbsterstellten immateriellen Vermögenswerten, wie etwa die bereits erwähnten Entwicklungskosten», erklärt Köster. «Obwohl das Projekt noch in einer sehr frühen Phase ist, erwarte ich hier keine grundsätzlichen Änderungen für die Bilanzierung. Vielmehr gehe ich von weitergehenden Offenlegungsstandards aus, um den Adressaten von Abschlüssen einen besseren Einblick in dieses wichtige Thema zu ermöglichen.»