Es war fast schon ein Akt der Verzweiflung. Da forderte der Verwaltungsrat einer respektierten Schweizer Spitalgruppe – jener rund ums Kantonsspital Aarau (KSA) – von seinen Kaderärzten und Kaderärztinnen einen freiwilligen Salärverzicht, und zwar in der Höhe des variablen Lohnanteils für das Jahr 2022. Doch dann machte ein Zeitungsbericht machte das Ansinnen der Spitalverantwortlichen aus dem Aargau öffentlich. Die Boni blieben – und mit ihnen die finanzielle Misere.
Die Episode zeigt: Das Schweizer Spitalsystem 2023 ist finanziell am Limit. Spitalschliessungen in Bern, Massenentlassungen in St. Gallen – fast überall ist die Lage ungemütlich, wenn nicht gar verheerend. Die Situation taxiert Philip Sommer, Leiter Gesundheit beim Beratungsunternehmen PwC, als «beunruhigend». Und prognostiziert trocken: «Wenn wir so weitermachen, werden wir schon bald Spitäler retten, so wie wir heute Bail-outs für Banken machen.»
Bei 10 Prozent sollte die Ebitdar-Marge eine Spitals liegen, also der Ertrag vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen, Amortisationen und Mieten. Das ist der Richtwert, den die Gesundheitsfachleute bei der PwC für notwendig halten, um den Spitalbetrieb nachhaltig aufrechtzuerhalten. Doch das schafft inzwischen nur noch ein Bruchteil der Schweizer Spitalbetriebe.
Gemäss den Zahlen von PwC vom September lag 2022 die Hälfte aller Spitalbetriebe bei einer Ebitdar-Marge von 6 Prozent oder weniger, 1,2 Prozentpunkte tiefer als im Vorjahr. Zu schaffen macht den Kliniken ein Mix aus steigenden Zinsen, Preisen und Löhnen, befeuert vom kriegsbedingten Anstieg der Energiekosten und von einem Fachkräftemangel, der die Lohnkosten in die Höhe treibt. «Das heutige System droht zu kollaborieren», schreiben die PwC-Gesundheitsfachleute. Zumal die Ziel-Ebitdar-Marge «im Rahmen der für die digitale Transformation notwendigen Investitionen deutlich ansteigen muss, auf bis zu 15 Prozent».
Im Klartext: So schlecht, wie die finanzielle Situation des Gros des Schweizer Spitäler zurzeit ist, werden diese nicht in der Lage sein, Investitionen zu tätigen, die notwendig sind, um ein Spital effizient zu betreiben und um den Patientinnen und Patienten auch in Zukunft neueste Behandlungsmethoden anbieten zu können.
Auch bei der Kapitalsierungskraft der Spitäler sieht es düster aus: Die Eigenkapitalquote sei 2022 auf 37,2 Prozent abgesackt, berichten die Gesundheitsfachleute der PwC. Bei 43 Prozent der Kliniken lag die Quote bei weniger als 30 Prozent – gegenüber 39 Prozent im Vorjahr. Doch auch am unteren Ende der Skala spitzt sich die Situation zu: Gemäss PwC wiesen drei Spitäler im Jahresabschluss 2022 eine Eigenkapitalquote von 0 Prozent oder noch weniger aus. Im Klartext heisst das, dass sie buchhalterisch insolvent sind oder kurz vor der Insolvenz stehen.
Vor dem PwC-Bericht brachte schon im Juni eine Umfrage der «Handelszeitung» unter den gut 40 Institutionen des PwC-Universums – es deckt rund 80 Prozent des hiesigen Spitalmarkts ab – Alarmierendes zutage: Von den 27 Einrichtungen, die den Fragebogen retournierten, gaben 2 von 3 an, dass sie unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr in der Lage seien, die notwendigen Investitionen zu stemmen. Die Umfrage zeigte auch den Druck, der auf den Spitälern als Arbeitgeber lastet. Substanzielle Wochenzulagen, Elternzeit, unbezahlter Urlaub – das alles muss ein Spital heute leisten, wenn es seine Mitarbeitenden bei der Stange halten will. 7 Spitäler gaben an, dass es aufgrund des Personalmangels zu Einschränkungen bei der Versorgung gekommen sei. Fast alle Spitäler sind, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass, auf – teure – Temporärangestellte angewiesen.
Die Krankenkassen und die Politik haben sich das Ziel gesetzt, den Druck auf die Spitäler über eine sportliche Ausgestaltung des Tarifsystems zu erhöhen – auch um die Flurbereinigung zu befördern. Kleine Einrichtungen, die keine Spezialisierung haben und deshalb weder effizient noch medizinisch sinnvoll arbeiten können, sollen aufgeben oder sich mit anderen Kliniken in Partnerschaften zusammenschliessen. So weit, so gut. Doch inzwischen haben sie den Bogen derart überspannt, dass selbst erfolgreich arbeitende Gesundheitsmanager wie Hugo Keune, CEO des Kantonsspitals Graubünden, sagen: So, wie es jetzt laufe, würden die Krankenkassen zu «Totengräbern des Systems». Wer ständig finanziell am Abgrund steht, der kann sich nicht mehr in die Zukunft projizieren. Das gilt auch für Spitäler.
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