Herr Odier, was hat Sie motiviert, in den Beirat des Lucerne Dialogue einzutreten?
Patrick Odier (PO): Zunächst einmal ist das Thema Europa für mich zentral. Und das schon sehr lange. Seit 2014 führt die Schweiz die Verhandlungen mit Europa und es sollte jetzt Priorität haben, dass wir diese Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende bringen. Der Lucerne Dialogue bietet die grossartige Möglichkeit, mit verschiedenen Persönlichkeiten aus Europa die wichtigsten Themen zu diskutieren.
Herr Stalder, welches Ziel hat der Lucerne Dialogue konkret?
Marcel Stalder (MS): Wir verstehen uns als europäische Wirtschaftskonferenz. Dabei geht es um die Frage, wie wir Europa und die Schweiz, aber auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa stärken können. Im Zentrum steht immer die künftige Prosperität, also wirtschaftliche Überlegungen, und aus diesem Nukleus heraus kommt die Vernetzung zu Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, die natürlich immer in Wechselwirkung zur Wirtschaft stehen.
Welche Themen sollten für Europa ganz oben auf der Agenda stehen?
(MS) Das erste wichtige Thema ist: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir geopolitisch am Ende des Multilateralismus angelangt sind. Wir haben es zunehmend mit einer bipolaren Welt zu tun, in der China und die Vereinigten Staaten die beiden Pole bilden. Und die Frage ist daher: Wo positioniert sich Europa in Zukunft, sowohl geopolitisch, aber vor allem wirtschaftlich und auch gesellschaftlich?
Bleibt die Frage, ob Europa bereit ist, mit einer Stimme zu sprechen.
(MS) Das ist die erste grosse Frage. Die Europäische Union (EU) wurde ursprünglich als Friedensprojekt gegründet und nach innen so organisiert, dass keine Konflikte innerhalb der EU-Staaten aufkommen. Sie ist bisher nicht dafür konstruiert, sich auch nach aussen zu positionieren.
Was sie jetzt aber mit dem von Russland angezettelten Krieg zwangsläufig muss.
(MS) Die EU braucht für die Zukunft eine Transformation. Dazu gehört eine EU-Sicherheitspolitik mit einer klaren geopolitischen Positionierung. Von kleineren Störfeuern – beispielsweise aus Ungarn – abgesehen, ist dies der EU im Ukraine-Konflikt schon sehr gut gelungen. Das war ein wichtiger Entwicklungsschritt.
Welches Thema ist noch wichtig für Europa?
(MS) Es ist ganz wichtig, dass sich Europa nicht nur auf die wirtschaftliche Regulierung konzentriert, sondern auch auf Innovationen. Wir können es nicht dabei belassen, dass die Amerikaner die Innovationen vorantreiben und wir stattdessen versuchen, alles zu regulieren. Davon müssen wir ganz schnell wegkommen. Europa muss dringend über Investitionen in die Bildung, aber auch zentrale Technologien nachdenken, um so die Innovationskraft in der Schweiz und in Europa zu stärken. Noch ist die Schweiz sehr gut aufgestellt, aber wie können wir die Schweiz und Europa so stärken, damit in Zukunft wieder ein oder zwei europäische Unternehmen zu den zwanzig grössten und wichtigsten Unternehmen der Welt gehören? Heute sind es nur noch amerikanische und chinesische Technologieunternehmen; das war vor einigen Jahren einmal anders, und da müssen wir wieder hinkommen.
Wir haben in Europa doch hervorragende Universitäten, vor allem in der Schweiz, und sehr innovative Startups. Was ist das Problem?
(PO) Leider gibt es dafür mehrere Gründe. Ein entscheidender Punkt ist, dass der Entscheidungsprozess in den USA und China oft einfacher und schneller ist, um Programme zu starten und Innovationen zu fördern. Es gibt in Europa verschiedene Prioritäten in den verschiedenen Ländern, und das macht es schwierig, effizient voranzukommen. Wir erleben derzeit grundlegende Veränderungen in der Wirtschaft, in der Industrie und auch im Finanzsektor, die uns nicht nur in den nächsten Jahren, sondern langfristig betreffen werden. In diesem Sinne müssen wir uns sowohl in der Schweiz als auch in Europa darauf vorbereiten, dass die Führung dieser Themen nicht nur bei den Akteuren in Amerika oder China liegt, sondern auch von uns in Europa geteilt wird.
Welche Veränderungen meinen Sie?
(PO) Ich denke vor allem an die Digitalisierung. Es besteht kein Zweifel, dass wir noch innovativer sein und dies auch mehr fördern müssen. Ich denke dabei natürlich vor allem an die generative künstliche Intelligenz (KI). Aber ich denke auch an die Nachhaltigkeit und die Folgen dieser Veränderungen für die Arbeitswelt und die Gesellschaft. Es gibt wohl keinen einzigen Wirtschaftszweig auf der Welt, der sich nicht damit beschäftigt, nachhaltiger zu werden. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht nur Hindernisse, sondern auch ein grosses Potenzial sehen.
Patrick Odier
Der Präsident von Swiss Sustainable Finance (SSF) sowie des Stiftungsrats von Building Bridges war von 2009 bis 2016 Vorsitzender der Schweizerischen Bankiervereinigung und von 2004 bis 2022 Mitglied des Vorstands von Economiesuisse.
Sehen Sie auch das Potenzial, Herr Stalder?
(MS) Absolut. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir mehr wirtschaftliche Macht in Europa erlangen. Europa hat eine Riesenchance als Vorreiter einer sozialökologischen Marktwirtschaft. In den neuen Technologien und in der Energiewende steckt unglaublich viel Wirtschaftskraft und wirtschaftliche Innovation als Potenzial.
Wir haben jetzt sehr viel über Europa gesprochen. Wie soll sich die Schweiz in dieser Welt positionieren?
(PO) Die Schweiz hat sich entwickelt als offene Schweiz. In der Schweiz gibt es das Rote Kreuz, in der Schweiz gibt es starke Strukturen in der UNO. In der Schweiz gibt es viele globale Weltkonzerne wie Nestlé, aber auch eine Grossbank und die Pharmaindustrie, die in der Schweiz nur einen sehr kleinen Anteil ihrer Wertschöpfung realisieren. Die Schweiz ist durch Offenheit gewachsen und wir sind eine Exportnation. Wir brauchen den Zugang zu freien Märkten. Wir sind also überhaupt nicht für die Isolation gemacht. Das wäre ein totaler Widerspruch zu unserer Erfolgsgeschichte und damit würden wir uns komplett ins Knie schiessen. Für mich ist es wichtig, dass wir erkennen, dass ein Alleingang die falsche Antwort ist im Kontext der grossen Herausforderungen wie Klimawandel, Biodiversität, Nahrungsmittelknappheit, Migration, Gesundheitsrisiken, Sicherheitsprobleme, Kriege, Energiewende und Digitalisierung. Das kann man als Land alleine gar nicht schaffen. Deshalb brauchen wir Europa.
Wie können die Schweiz und Europa ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen?
(MS) Für mich sind es vier Schlüsselfaktoren: Die Förderung der Innovation ist ein zentrales Thema. Dazu gehört auch der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen. Dieser freie Verkehr von Menschen innerhalb Europas und zwischen Drittländern ist extrem wichtig und kann, wenn nötig, mit einer Ventilklausel gut reguliert werden. Drittens, ein Thema, das kaum in der Diskussion ist: Wir sollten uns bemühen, unsere traditionell internationale Rolle zu stärken mit starken internationalen Organisationen, was auch wichtig ist für die Wiederherstellung des Multilateralismus. Und schliesslich der vierte Schlüsselfaktor: die Freiheit der Wirtschaft. Das hat sehr viel mit der Bürokratie zu tun. Für jede neue Regulation sollte eine veraltete abgeschafft werden, nur so halten wir uns agil. In diesem Sinne haben wir in der Schweiz die Chance, einen Beitrag zu leisten als Vorbild, wie man auch in Europa die Wettbewerbsfähigkeit fördern könnte.
Wäre eine EU-Mitgliedschaft nicht die beste Lösung, um diese Ziele zu erreichen?
(MS) Nein, wir sind keine EU-Turbos, wir sind gegen eine EU-Mitgliedschaft, aber wir sind für eine geregelte Assoziation mit Europa und wir brauchen den EU-Binnenmarkt. Es gibt zwei Punkte, die häufig nicht richtig verstanden werden und die wir besser kommunizieren müssen.
Die wären?
(MS) Die EU ist nicht dieses oft propagierte gefährliche Riesenkonstrukt, das uns mit seiner Grösse und Überverwaltung erdrückt. Die EU ist in erster Linie die Wiege unserer Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Damit ist die EU der logische erste Partner für uns, auch von der Entfernung her, den Handelswegen und Lieferketten. Und auf der anderen Seite ist die Schweiz nicht dieses kleine Mäuschen im Angesicht dieses riesigen Europas. Tatsache ist, dass die Hälfte der EU-Mitglieder weniger Einwohner hat als die Schweiz. Und zweitens, wenn man sich die Wirtschaftsleistung anschaut, ist die Schweiz die sechstgrösste Wirtschaftsnation in der EU. Die Schweiz hat auch eine grosse Bedeutung für Europa.
Marcel Stalder
Der CEO der Gruppe Chain IQ und Präsident von Lucerne Dialogue verfügt über grosse Erfahrung in globalen Dienstleistungsunternehmen. Er ist zudem Mitglied in verschiedenen Gremien renommierter Organisationen.
Dieser Artikel erschien am 10. Oktober 2024 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue. Deren Jahresanlass, das Annual Meeting, findet am 27. und 28. November 2024 im KKL statt.