Bei den Fussballspielen während der Europameisterschaft waren im Durchschnitt drei von elf Schweizer Spielern People of Color mit afrikanischer Herkunft. Wie wird das Verhältnis in zwanzig Jahren aussehen?

Eine gute Frage, wenn man eine schlechte Antwort vermeidet. Für die Europameisterschaft waren 8 der insgesamt 24 ausgewählten Spieler afrikanischer Herkunft. Deren Durchbruch begann im Jahr 2000 mit Badile Lubamba und Blaise Nkufo, wenn man von den Vorläufern Raymond Bardel und Philippe Douglas absieht. Folgerichtig werden sie in zwanzig Jahren mehr als die Hälfte der Nationalmannschaft stellen – das ist natürlich Unsinn. Wie die italienischen, jugoslawischen und albanischen Präzedenzfälle klarmachen, sind Einwanderungen nicht geradlinig, und Fussball als «sozialer Fahrstuhl» hängt vom Status der Immigranten ab, der sich auch verändert.

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Wie wird das Verhältnis in einer Anwaltskanzlei oder einer Zeitungsredaktion aussehen?

Nehmen Sie mir die schnippische Antwort nicht übel: Es wird sicher mehr Rechtsanwälte als Nachrichtenredakteure afrikanischer Herkunft geben, weil der Journalismus sich neu erfinden muss, wenn er Eingewanderte mit Aufstiegsambitionen anziehen will. Wie viele es jeweils sein werden, ist unmöglich vorherzusagen.

Was sind die Hauptgründe für die Migration aus Afrika nach Europa?

Das demografische Wachstum, die «Jugendlichkeit» der Bevölkerung vor allem südlich der Sahara, die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas, der Fortschritt der Informationstechnologien und nicht zuletzt die afrikanische Diaspora.

Können Sie dazu Zahlen nennen?

Die afrikanische Bevölkerung wird von den heutigen rund 1,4 Milliarden Einwohnern und Einwohnerinnen auf mehr als 2,5 Milliarden im Jahr 2050 ansteigen. Südlich der Sahara sind 40 Prozent unter 15 Jahre alt – fast dreimal mehr als in der Schweiz, wo die Jugendquote bei 15 Prozent liegt.

Wie prägen die ökonomische Lage vor Ort, das Internet und die Diaspora in Europa die Migration?

Die wirtschaftliche Entwicklung gibt mehr und mehr Menschen die Mittel, sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen. Sie benötigen heute, je nach Ausgangspunkt in Afrika, zwischen 2500 und 3500 Schweizer Franken, um nach Europa zu kommen – das ist in vielen Ländern das Doppelte des Pro-Kopf-Jahreseinkommens. Durch den Fortschritt der Informationstechnologien ist das Traumleben weltweit sichtbar und zieht an. Die afrikanische Diaspora funktioniert wie ein Empfangsschalter, bedauerlicherweise umso besser, je schlechter die Vorläuferinnen und Vorläufer im Einwanderungsland integriert sind. Das erlaubt Neuankömmlingen, Starthilfe zu finden für ein Leben «wie zu Hause», aber mit mehr Einkommen.

Wie sehen die Zahlen heute aus? Wie viel Migration findet innerhalb der Länder und innerhalb Afrikas statt, und wie viel davon ist Auswanderung nach Europa, in den Nahen Osten oder nach Amerika?

In allen afrikanischen Ländern ist die Landflucht eine interne Völkerwanderung in die Städte. Ein Beispiel: Nigerias grösste Stadt Lagos hatte im Jahr 1960 350’000 Einwohnerinnen und Einwohner und heute schätzungsweise 21 Millionen. Für Afrika insgesamt gilt, dass gegenwärtig 70 Prozent der Migranten und Migrantinnen auf dem Kontinent bleiben, das heisst nur in ein anderes, relativ reicheres afrikanisches Land umziehen. Von den 30 Prozent, die ihren Heimatkontinent verlassen, kommt die Hälfte nach Europa. Die andere Hälfte verteilt sich auf den Rest der Welt, mit einem rasch wachsenden Anteil für Nordamerika.

Der Migrationsexperte

Stephen W. Smith lehrt seit 2007 Afrikanistik an der Duke University (USA). Er war zuvor Leiter des Afrika-Ressorts der französischen Tageszeitungen «Libération» und dann «Le Monde». Er ist Autor von 18 Büchern über Afrika, von denen mehrere in vielen Ländern erschienen sind. Auf Deutsch wurde von ihm zuletzt «Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent» (2018) veröffentlicht.

Welche Zahlen erwarten Sie für die Zukunft?

Um Zahlen zu nennen, müsste man wissen, wie rasch Afrika sich wirtschaftlich entwickeln wird, wie die Welt morgen politisch, militärisch und ökologisch aussehen wird und welche Leitgedanken – Konsumismus, Fremdenfeindlichkeit, grenzenlose Solidarität et cetera – die meisten Menschen buchstäblich und im übertragenen Sinne «bewegen» werden. Aber um ihrer Frage nicht auszuweichen: Als Nachbarkontinent Afrikas und angesichts der Tatsache, dass Westeuropa mit nur 2,5 Prozent der Weltbevölkerung für die Hälfte der globalen Sozialausgaben steht, also der Wohlfahrtskontinent schlechthin ist, sollten wir uns darauf vorbereiten, dass in den nächsten Jahrzehnten immer mehr, wirklich sehr viel mehr Afrikaner und Afrikanerinnen nach Europa aufbrechen werden.

Bei alternden Bevölkerungen können junge Eingewanderte das Sozialsystem stabilisieren. Sollte Europa offener für Einwanderung aus Afrika sein?

Wie viele Migrantinnen und Migranten man willkommen heisst, sollte jede und jeder mit sich selbst ausmachen. Für mich sind nur die Extreme – überhaupt keine Einwanderer oder jede, die kommen will – abwegig. Was das «Verjüngungsargument» betrifft, demzufolge das alte Europa junge Menschen aus Afrika braucht, um seinen Wohlfahrtsstaat zu retten: Das scheint mir kurzsichtig. Afrikanische Familien sind im Durchschnitt kinderreicher als einheimische Familien, und die Kosten für die Gesundheit oder Ausbildung von Kindern sind Sozialausgaben, genauso wie die Rentenzahlungen. Darüber hinaus werden Eingewanderte natürlich auch älter und sollten von der Wohlfahrt, die sie mitfinanziert haben, zu Recht profitieren. Langfristig müsste man daher immer mehr junge Afrikanerinnen und Afrikaner ins Land bringen, und das ist kaum eine Lösung.

«Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass in den nächsten Jahrzehnten sehr viel mehr Afrikaner nach Europa aufbrechen werden.»

 

Gegenwärtig haben wir einen Arbeitskräftemangel. Wird es im kommenden Zeitalter von KI und Robotern noch einen Bedarf an billigen Arbeitskräften geben?

Wahrscheinlich. Bislang zumindest hat die Automatisierung nicht die Arbeitsplätze wegrationalisiert, die – aus guten oder schlechten Gründen – oft Eingewanderten zufallen, so wie die Arbeit als Erntehelferinnen, Lieferanten, Wächter, Sozialarbeiterinnen und Pflegepersonal für immer mehr alte Menschen. Unser Arbeitsmarkt nimmt die Form einer asymmetrischen Sanduhr an: manche oben, viel mehr unten und sehr wenige in der Mitte.

Gibt es eine Chance, dass Europa die Einwanderung als Chance und nicht als Bedrohung sieht? Im Moment sind rechte Parteien mit einwanderungsfeindlicher Rhetorik auf dem Vormarsch.

Je nach den Umständen und ihrem Ausmass kann Immigration beides sein, eine Chance oder ein Risiko. Warum können wir nicht unvoreingenommen darüber sprechen, welche Vorteile – für uns und für die Eingewanderten – die «Integrationsarbeit» auswägen, die ebenfalls beide Seiten betreffen?

Welches Einwanderungssystem empfehlen Sie, um weitere Todesfälle im Mittelmeer zu vermeiden?

Niemand wünscht, dass andere sterben, aber jeder und jede ist auch für sich selbst verantwortlich. Um zu vermeiden, dass Migranten und Migrantinnen weiterhin im Mittelmeer ertrinken, müssten entweder wir ihnen sichere Transportmittel zur Verfügung stellen, oder die Afrikaner, die nach Europa kommen wollen, dürften nicht länger bereit sein, dafür ihr Leben und das Leben ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. Beides ist unwahrscheinlich. Europa wird kaum alle potenziellen Ansiedlerinnen einschiffen und im Vergleich zu den Gefahren, die viele Menschen in Afrika in ihrem Alltag zu Hause auf sich nehmen müssen, ist die Überquerung des Mittelmeers in deren Augen ein begrenztes Risiko.

Für das Herkunftsland ist der Braindrain ein grosses Problem. Wie wirkt sich dies auf die ideale Migrationspolitik aus?

Nichts ist einfach. Die Ausgewanderten vermindern den demografischen «Druck» in ihrem Heimatland, sie qualifizieren sich im Zuwanderungsland und senden nicht nur Geld, sondern auch neue Ideen und Ansichten nach Hause. Insofern sind sie das Ferment einer besseren Zukunft. Anderseits haben Sie natürlich recht: Wenn die Energie, die Afrikaner und Afrikanerinnen heute fürs «Abhauen» mobilisiert, dem Aufbau des Kontinents dienen würde, wäre dort manches viel besser.

Cover Lucerne Dialogue Magazine 2024
Quelle: Ringier Medien Schweiz

Dieser Artikel erschien am 10. Oktober 2024 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue.