Wird es das nächste Industriedenkmal der Schweiz? Seit über 200 Jahren wird im Werk Gerlafingen im Kanton Solothurn Stahl produziert. Mehrere hunderttausend Tonnen Bewehrungs- und Profilstahl verlassen jedes Jahr die Werktore und werden für Gebäude, Brücken, Tunnel, Lastwagen und eine Vielzahl von Maschinen und Apparaten der MEM-Industrien genutzt. Als Rohmaterial wird recycelter Eisenschrott verwendet, weshalb das Werk auch als der grösste Recyclingbetriebe der Schweiz gilt.
Die Stunden des Traditionsbetriebs, der zur italienischen Beltrame-Gruppe gehört, könnten gezählt sein. Zuletzt jagte eine Hiobsbotschaft die nächste: Vor drei Wochen wurde bekannt, dass 120 Entlassungen anstehen. Und dies, nachdem bereits im Frühling 59 Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job verloren hatten und 500 Angestellte im August in Kurzarbeit gingen.
Gerlafingen ist kein Einzelfall. Im Sommer hatte bereits die Firma Mubea Präzisionsstahlrohr im St. Galler Rheintal 30 Kündigungen ausgesprochen. Und die Zukunft bei Swiss Steel hängt schon länger am seidenen Faden. Die Metallindustrie in der Schweiz steckt in der Krise. Was ist das Problem?
Der Besitzer von Stahl Gerlafingen, Antonio Beltrame, hat sich in einem Interview in der «NZZ am Sonntag» zur Situation des Werks geäussert. Das Hauptproblem seien die Schweizer Energiekosten. Das Werk Gerlafingen benötigt so viel Strom wie 70’000 Haushalte – und weil dieser zu teuer geworden ist, wird er zum Standortproblem. Er wolle das Stahlwerk nicht aufgeben, doch würden der Schweizer Staat und die Energiepolitik ihn schliesslich dazu zwingen, so Beltrame.
Beltrame zufolge zahlt das Werk in Gerlafingen fast fünfmal so viel für eine Megawattstunde Strom wie beispielsweise in Frankreich. 2023 betrugen seine Kosten in Italien für die Megawattstunde Strom 88 Euro. Frankreich war noch günstiger, dort kostete die Megawattstunde nur 30 Euro. Aber in der Schweiz summierten sich die Kosten für eine Megawattstunde, mit allen Gebühren, auf 143 Euro. «Strom ist unser wichtigster Kostenblock», so Beltrame.
Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und Italien, die im Zuge des Ukraine-Kriegs ihre Energiepreise für die Industrie senkten, hat die Schweiz bisher keine nennenswerten Massnahmen ergriffen. Die hohen Energiekosten machen es Stahlwerken wie Gerlafingen nahezu unmöglich, profitabel zu arbeiten. «Es ist, als würden wir in Gerlafingen mit gefesselten Händen kämpfen», kommentiert Beltrame im Interview die Situation resigniert.
Die Bedeutung eines lokal produzierenden Stahlwerks ist für die Schweiz offensichtlich. Gerlafingen produziert rund eine halbe Million Tonnen Baustahl pro Jahr – ein Rohstoff, den die Schweizer Bauwirtschaft dringend benötigt. Der Import dieser Menge Stahl würde nicht nur bis zu 50’000 zusätzliche Lastwagenfahrten bedeuten, sondern auch erhebliche CO₂-Emissionen verursachen. Ein nationales Stahlwerk trägt somit nicht nur zur Versorgungssicherheit bei, sondern unterstützt auch die Kreislaufwirtschaft und reduziert die Transportemissionen signifikant.
Der Bundesrat sieht allerdings keine Notwendigkeit, der Stahlindustrie unter die Arme zu greifen. Bundesrat Parmelin stellte klar, dass das Stahlwerk nicht als systemrelevant eingestuft wird und die Schweiz keine klassische Industriepolitik betreiben möchte.
Es ist wie eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entscheidet sich die Politik für Industriepolitik (Pest) – oder tut sie nichts, und es kommt zur Deindustrialisierung (Cholera). Sicher ist: Die Schweiz riskiert, angesichts der Unterstützungspolitik der EU, den Anschluss zu verlieren.
Die EU erkennt den strategischen Wert einer unabhängigen Stahlproduktion und reagiert mit umfassenden Massnahmen. Die Schweiz hingegen nimmt den möglichen Niedergang eines wichtigen Industriezweigs in Kauf. Die Deindustrialisierung, die bereits in Deutschland als Bedrohung gesehen wird, könnte auch der Schweiz drohen.
Die Herausforderung, den steigenden Energiebedarf durch nachhaltige, bezahlbare Lösungen zu decken, wird eine der zentralen Aufgaben der nächsten Jahre sein. Schmelzen wir die Industrie oder fördern wir sie. Der Ball liegt bei der Politik.