Zuerst im Frühling knapp 60 Leute weniger, dann im Oktober 120 weitere Kündigungen beim Stahlwerk Gerlafingen in Solothurn, das der italienischen Beltrame-Gruppe gehört. Das Werk benötigt so viel Strom wie 70’000 Haushalte – und weil dieser zu teuer geworden ist, wird er zum Standortproblem. Im Sommer hatte bereits die Firma Mubea Präzisionsstahlrohr im St. Galler Rheintal 30 Kündigungen ausgesprochen. Und die Zukunft bei Swiss Steel «hängt am seidenen Faden», wie es im März hiess. Teure Energiekosten sind auch hier im Spiel – neben einer Reihe weiterer Faktoren. Wie tragfähig ist der Standort Schweiz noch?

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

 

Schweizer sind Best-in-class 

«Metalle sind aus unserem täglichen Leben nicht wegzudenken», sagt Andreas Steffes, Geschäftsführer von Metal.Suisse, dem Dachverband des Werkstoffkreislaufs Metalle, der die Interessen des Stahlbaus, des Metallbaus und der Fassadenbauer vertritt. «Stahl, Aluminium, Kupfer et cetera sind aufgrund der Materialeigenschaften ein unverzichtbares Element unserer Wirtschaft geworden; ohne Baustahl ist kein Gebäude denkbar. Auch jeder Topf oder jedes Besteck ist aus Stahl oder Alu», so Steffes. «Die Branche besteht aus zahlreichen, eng verzahnten Unternehmen, von der Produktion über den Handel und die Verarbeitung wie Biegereien, Sägereien, Verzinker, Härtereien, über Stahl- und Metallbauer oder Eisenleger im Bau, Ingenieure und Planer sowie Maschinenbauunternehmen bis hin zu Produzenten von Konsumgütern mit Marken wie Victorinox oder Stewi. Und zum Schluss kümmern sich Recyclingunternehmen um die Wiederverwendung und führen die Wertstoffe wieder dem Kreislauf zu.» 

Produkte aus Metall sind zwar schwer, aber aufgrund der Werkstoffeigenschaften braucht man verhältnismässig wenig Material. «Und auch wenn man das nicht vermutet, gibt es grosse Unterschiede im Material oder in der Herstellung», so der Experte weiter. «Bislang haben unsere Hersteller in der Schweiz im Stahl die Nase vorn, wenn es um die ökologische Stahlproduktion geht.»

Bei ihren Produkten seien Stahl Gerlafingen und Swiss Steel Best-in-class, was angesichts der Aufgabenstellung «Netto null» in den nächsten Jahren zentral sein werde. «Auch in der Aluminiumproduktion haben wir Standorte von Spitzenunternehmen in der Schweiz, die hoch spezialisierte Güter herstellen», sagt Steffes. «Diese Grundversorgung bildet das industrielle Rückgrat unserer Bau- und Exportwirtschaft.» 

 

EU-Beziehung bleibt schwierig

Hinzu kommt die Nachhaltigkeit, die erst auf den zweiten Blick erkennbar wird. «Wir haben bisher am Standort Schweiz die nachhaltigsten Stahlwerke in ihren Bereichen, da wir seit je auf Recyclingstähle setzen», so Steffes. «Diese werden zu 100 Prozent aus Schrott hergestellt, welcher aus der unmittelbaren Umgebung aus der Schweiz und dem angrenzenden Ausland kommt.» Dazu sind grosse Mengen an Strom nötig, und hier kann der Schweizer Standort mit dem hohen Anteil an Wasserkraft seine Stärke ausspielen. «In der Vergangenheit wurden bereits grosse Anstrengungen unternommen, um die Industrie nachhaltig und wettbewerbsfähig gut aufzustellen – so sind beide Stahlwerke heute parat, um in der Produktion die Öfen mit Wasserstoff statt mit Erdgas zu betreiben», sagt Steffes. «Zentral ist aber, dass CO₂-freier Strom zu marktfähigen Kosten beschafft werden kann.» Hier hapere es in der Schweiz noch. 

Ebenfalls hapert es in der Beziehung mit der EU. «Für die EU ist die Schweiz Drittland», erklärt Steffes. «Das spüren wir auch beim EU-CBAM (CO₂-Grenzausgleichsmechanismus) und ganz massiv bei den Marktschutzmassnahmen.» Die EU kennt Importquoten auf Stahl und Aluminium, zum Schutz der eigenen Industrie vor Billigangeboten aus dem Ausland. «Die Auswirkungen hat man im Frühjahr gesehen, als Stahl Gerlafingen eine Produktionsstrasse schliessen musste, da in der EU kein Material mehr abgesetzt werden konnte», so Steffes. «Ebenfalls nachteilig ist, dass die EU die Produktion von Stahl als strategisch bedeutend für die Industrie und die Herausforderungen der Zukunft definiert.» Daher fliessen grosse Subventionssummen in die Konkurrenz der Schweiz, um diese unter anderem auf Recyclingproduktion umzurüsten. «Letztlich sind im Recycling die Stromkosten matchentscheidend», resümiert Steffes. «Hier leiden die Schweizer Grossverbraucher extrem unter den administrativ deutlich höher festgelegten Netzzugangskosten und -zuschlägen.» 

 

Die Zukunft ist eine politische Frage

Wie die Zukunft der Industrie aussieht, sei eine rein politische Frage, erklärt der Experte. Die Nachfrage nach Aluminium und die vielen Einsatzmöglichkeiten von Stahl, sei dies im Bau, sei dies in der Industrie, machten das Material und die Industrie sehr interessant. «Die Unternehmen gehören aber zu internationalen Gruppen, die sich die Frage stellen, in welchen Standorten sie die hohen Investitionen in die Transformation tätigen», sagt Steffes. «Während in Europa dieser Industriezweig hofiert wird, hat sich der Bundesrat leider nur so darüber geäussert, dass diese Industrie nicht systemrelevant sei und dass die Produkte auch im Ausland beschafft werden könnten – eine Aussage, die wir stark anzweifeln.» 

Die Folgen wären beträchtlich, denn das Material müsste zukünftig aus dem Ausland geliefert und der entsprechende Schrottanteil ins Ausland zurückgeliefert werden. «Dies wird zu einer Deindustrialisierung in der Schweiz mit entsprechend massiven Auswirkungen auf vor- und nachgelagerte Unternehmen führen», warnt Steffes. «Da bereits ein Konkurrenzkampf um die ökologischsten Stahlprodukte begonnen hat, werden wir in der Schweiz einen Rückschritt erleben, und die Erfüllung der CO₂-Ziele aus dem revidierten Umweltschutzgesetz wären vor diesem Hintergrund Makulatur.»