Upcycling im Bauwesen – was ist damit gemeint?

Im Grundsatz bedeutet Upcycling, Materialien wiederzuverwenden. Jedoch in möglichst hochwertiger oder vielmehr höherwertiger Qualität, als es vorher war. Nehmen wir als Beispiel einen alten Mauerziegel vom Abbruch: Durch Reinigung und Wiederverwendung als sichtbarer Backstein in einem Ausstellungsraum erfährt er womöglich eine Aufwertung, als Ziegelsplitt auf dem Tennisplatz jedoch eine Abwertung, also ein Downcycling. Beides wird oft noch als Recycling pauschalisiert. 

Worin besteht der Unterschied zum Recycling?

Recycling bedeutet in der Regel die Rückführung eines Produkts in einen Stoffkreislauf. Also ein Verwertungsprozess, bei dem ich etwas in seiner bestehenden Form auflöse, wie beispielsweise durch Einschmelzen, und aus dem gewonnenen Rohstoff wieder etwas Neues produziere. Auch das gibt es natürlich in der Bauindustrie. Upcycling jedoch nutzt Bestehendes in seiner fertigen Form weiter. Auf den energieintensiven Recyclingprozess wird verzichtet. 

Was sind die Vorteile?

Momentan fokussieren wir stark auf Fragen der Energie- und Rohstoffversorgung sowie auf den Schadstoffausstoss. Um netto null zu erreichen, müssen Gebäude jedoch «netto-positiv» werden. Upcycling gleicht nicht aus, Upcycling wertet auf. Architektur ist weit mehr als nachhaltige Energieerzeugung oder Schadstoffunterlassung. Wir benötigen Upcycling für netto-positive Gebäude auch auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene. Die kluge Wieder- und Weiterverwendung ist nicht nur umweltfreundlich, sie kultiviert auch kulturelle Werte, schafft ein Bewusstsein für Geschichte, Geschichten und Identität. Das Gebäude muss vom selbst bezogenen Einwegprodukt zum werthaltigen Zwischenlager werden.

Was sind dabei die grössten Herausforderungen?

Die Materialbeschaffung ist eine grosse Herausforderung. Es gibt enorme Abfallmengen im Baugewerbe, aber es fehlt eine Industrie, die Bauteile im grossen Massstab aufbereitet und wieder zur Verfügung stellt. Der Fokus liegt noch immer auf der Abfall- und Recyclingindustrie. Häuser werden lieber abgerissen. Das ist lukrativer und geht schneller. Upcycling hingegen ist aufwendiger, benötigt Kenntnisse im Rückbau und erfordert Flexibilität in der Planung und Gestaltung. Zunächst ist immer offen, was sich wirklich upcyceln lässt.

Wie sieht es mit dem Informationsfluss aus? 

Frühzeitig Informationen zu geplanten Rückbauprojekten zu bekommen, ist ebenso herausfordernd. Abriss ist oft mit Emotionen verbunden. Weil dabei auch jene kulturellen Werte zerstört werden, die wir mit Upcycling zum Teil erhalten können. Viele fürchten bei einer Veröffentlichung eines Abbruchs auch Einsprachen vonseiten der Politik oder des Denkmalschutzes. Also sagt man wenig und agiert schnell. Dabei gibt es so viele Abrissobjekte in unserer Region, die Upcycling-Potenzial haben. Oftmals werden historische Holzbauten aus dem 19. Jahrhundert ebenso entsorgt wie Wohnüberbauungen oder Bankgebäude aus den 1990er-Jahren – Material und Potenzial, das uns dann für Neues fehlt.

Mangelt es an Wissen rund um das Thema Upcycling? 

Es fehlt an Wissen um die Chancen und Potenziale beim Upcycling. Die Zurückhaltung ist noch gross, denn Sie bekommen vielleicht nicht genau das Badezimmer, das Sie gewünscht hatten. Das Fenster sieht eventuell auch anders aus, und die Aussentreppe ist noch nicht verfügbar. Da braucht es ein grundsätzliches Umdenken. Würden wir den Neubau mit den Realkosten des effektiven Energie- und Rohstoffverbrauchs bepreisen, wären vermutlich viele bereit, die Kompromisse einzugehen. 

Gibt es ein aktuelles Projekt in der Schweiz für erfolgreiches Upcycling?

Mittlerweile einige – mit der Erweiterung der Halle K.118 in Winterthur beispielsweise hat das Baubüro In situ schon vor einigen Jahren nachgewiesen, dass ein Neubau fast nur aus wiederverwendeten Baumaterialien nicht teurer werden muss. Geht es um die Projekte unserer Studierenden, müssen diese mehr als Teststudien verstanden werden. Was bedeutet, dass wir sehr rigoros sind, wenn es darum geht, bestehende Bausubstanz wiederzuverwenden. So haben wir gerade eine Studie zu einem Neubau gemacht, der fast komplett aus den Materialien eines alten Bauernhauses besteht. Das lässt sich in der Realität natürlich nicht immer eins zu eins umsetzen. Im Wesentlichen funktionieren aber die Projekte. Und ihre Gestaltung ist oftmals verblüffend.

Welche Materialien lassen sich am besten verwenden?

Grundsätzlich alles, was sich gut demontieren lässt und nicht durch Schadstoffe belastet ist. Für die Tragstruktur begehrt sind beispielsweise verschraubte Holz- und Stahlelemente oder vorfabrizierte Betonteile wie Stützen, Träger und Deckenelemente. Fassadenverkleidungen, mineralisches Dämmmaterial, Fenster und Türen zur Einhausung der Tragstruktur sowie natürlich die Einrichtung sind in den Rückbaumassen zur Genüge vorhanden. Zu denken gibt die abnehmende Qualität und Verarbeitung der Produkte. Die Menge nimmt zwar zu, Qualität und Wiederverwendbarkeit nehmen jedoch noch immer ab. Aus heutigen Neubauten lassen sich in fünfzig Jahren meist kaum noch robuste Armaturen, sortenreine Materialien und Bauteile zurückgewinnen. Backsteine zum Beispiel liessen sich grundsätzlich wunderbar wiederverwenden, aber der heutige Zement ist so stark, dass sich diese gar nicht mehr im Ganzen herauslösen lassen.

Wie offen sind Entscheidungsträger bereits gegenüber dem Upcycling von Gebäuden in der Schweiz?

In Anfragen spüren wir viel Interesse und Neugierde. Den Mut, ein Projekt als Prozess zu betrachten und konkret anzugehen, hatten aber noch nicht viele. Das letzte Mal hat uns die Pandemie eine konkrete Unterstützung und Umsetzung vereitelt. Die grösste Chance sehe ich bei Entscheidungsträgern, wenn es zur Herzensangelegenheit wird. Wenn sie ihr eigenes altes Projekt in etwas Neues für sich verwandeln können. Infizierung und Faszination mit der Idee ist wichtig. Als reine Marketingmassnahme ist Upcycling vermutlich weniger geeignet.

Argumente wie diese sind aber noch nicht überzeugend genug?

Ein breites Umdenken findet in der Regel dann statt, wenn es ökonomisch relevant wird. Finanzstarke Regionen setzen dem zunehmenden Ressourcenmangel heute noch ihre Kaufkraft entgegen. Finanziell können wir es uns leisten, neue Ressourcen einzukaufen, zu verbrauchen und in Fernwärme umzuwandeln. Mit diesem Vorgehen verlieren wir jedoch viel Zeit und Wettbewerbsfähigkeit. Ressourcen im Kreislauf zu behalten, heisst nicht nur weniger Müll und Endlagerstätten. Es bedeutet, natürliche Ressourcen, Biodiversität und Lebensräume langfristig zu schützen, den Schadstoffausstoss auf ein tragbares Mass zu reduzieren, ökonomisch unabhängiger zu werden und neue Felder für Innovationen und Arbeitsplätze zu schaffen.

Könnte die Politik hier mehr Bewusstsein schaffen?

Ich stelle mir die Frage oft umgekehrt: Wie können die Erkenntnisse aus Forschung und Praxis besser im Bewusstsein der Bevölkerung und Politik verankert werden. An faktenbasierten Grundlagen mangelt es eigentlich nicht. Ein Problem ist vermutlich – und da sehe ich auch die Architektinnen, Architekten und Wissenschaft in der Verantwortung –, dass wir sehr stark auf die negativen Konsequenzen unseres derzeitigen Tuns und Unterlassens fokussieren. Ich denke, wir erreichen mehr, wenn wir die vielen Vorzüge, das riesige Potenzial und die Chancen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen. Schlechtes Gewissen ist der weniger starke Antrieb als die Lust aufs Neue. Vermutlich nicht nur in der Wissenschaft und Praxis, sondern auch in der Politik.

Was wären umsetzbare Massnahmen?

Eine breit bekannte Idee ist die CO2-Steuer; damit wird bei einer einheitlichen Währung angesetzt. Es könnten auch die Kosten für den Abfall angehoben werden. Wenn die Entsorgung einer Fassadendämmung mehr kostet, als sie wiederzuverwenden, wird das zum Umdenken führen. Nur Abgaben zu erheben, schafft aber noch keine Anreize und Nachhaltigkeit. Wer abgeben muss, soll auch die Chance der Förderung bekommen. Ich wäre unter anderem für eine sektorspezifische Lenkungsabgabe zur Förderung von qualifizierten Arbeitsplätzen, mit deren Hilfe Ressourcen zurückgewonnen und aufbereitet werden. Das Konzept der Hypotheken zulasten unserer Nachkommen hat ausgedient.

Und was wäre Ihr persönliches Ziel, das Sie gerne in den kommenden drei, vier Jahren im Bereich Upcycling erreichen wollen?

Ich würde gerne vielversprechendsten Untersuchungsergebnisse und Projekte mit inspirierten Bauträgerinnen und -trägern umsetzen. So hatten wir vor ein paar Jahren die Idee, aus einem alten aufgegebenen Verwaltungsgebäude – an seine Stelle kam ein Park – einen Parkpavillon für die Mitarbeitenden zu bauen. Dann aber kam, wie bereits angesprochen, Corona; an eine rechtzeitige Umsetzung war nicht mehr zu denken. Es wäre eine tolle Chance gewesen, anhand dieses Projekts zu untersuchen, was Mitarbeitendenpartizipation und Erinnerungswerte in einem Personalgebäude für die Menschen bedeutet. 

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Zur Person:

Daniel Stockhammer diplomierte an den Architekturschulen in Winterthur, Wien und Zürich. Er ist Professor und Leiter des Instituts für Architektur und Raumentwicklung und seit 2022 zudem Mitglied des Rektorats der Universität Liechtenstein. Seit 2023 ist er Dekan der Liechtenstein School of Architecture und leitet die Fachgruppe «Bauerbe & Upcycling».