Zu grossen Krisen gehört auch, dass grosse Bilanz-, Buchungs- und gar Betrugs-Skandale auffliegen: In der Finanzkrise 2008 war es der «Fall Madoff», in der Dotcom-Krise 2001 war es der «Fall Enron». Denn wenn es eng wird, geht zweifelhaften Wertschöpfung-Systemen eher das Geld und die Luft aus.
Möglich, dass sich dereinst der «Fall Wirecard» als Symbolsturz der Coronavirus-Krise 2020 einreihen wird. Immerhin handelt es sich um einen sogenannten Milliardenkonzern, der es 2018 geschafft hatte, die Commerzbank aus dem deutschen Leitindex Dax zu verdrängen. Nun wurde bekannt, dass ihm die Prüfungsgesellschaft EY den Abschluss verweigert, nachdem offenbar falsche Saldenbestätigungen vorgelegt worden waren: Es fehlen Belege für die Existenz von 1,9 Milliarden Euro.
Der Aktienkurs brach am Donnerstag um über 60 Prozent ein – und am Freitagvormittag nochmals über 40 Prozent. Der Marktwert löste sich von gut 13 auf knapp 3 Milliarden Euro auf. Am Freitag gegen Mittag trat dann der Gründer und CEO des Unternehmens, Markus Braun, per sofort von all seinen Funktionen zurück.
Wirecard, 1999 gegründet, hat seinen Sitz in Aschheim bei München und spielt im Geschäft der Zahlungsdienstleister. Es bietet Services für den elektronischen Zahlungsverkehr und das Risikomanagement von Kreditkarten; zum Konzern gehört auch die Wirecard Bank.
Das Hauptgeschäft liegt im Acquiring, das heisst: Wirecard steht zwischen den Detailhändlern und den Kreditkartenfirmen – sie betreut die Händler, managt die Geldströme und stellt gegenüber den Kreditkartenfirmen wie auch den Detail- und Online-Händlern sicher, dass die Gelder vorhanden sind. Es ist ein Geschäft mit sehr grossen Summen bei sehr kleinen Margen.
Dazu hat Wirecard weitere Payment-Angebote, beispielsweise eine Mobile-App fürs breite Publikum namens Boon. Das Unternehmen nennt Boon ein «einzigartiges Ökosystem aus mobilen Payment- und Banking-Services».
Kurz gesagt: Seit 2016 und verstärkt seit Anfang 2019 kursieren Gerüchte und dann auch Berichte, wonach es in den Bilanzen von Wirecard Unregelmässigkeiten gebe. Dies wurde vom Unternehmen stets bestritten, und in der Tat schien es anfänglich, als ob womöglich Short-Seller Falschmeldungen streuten, um kurzfristige Einbrüche des Aktienkurses zu provozieren.
Das Problem: Die Geldströme in der Payment-Branche sind selbst für Finanzprofis schwer durchschaubar. Zugleich geht es um grosse Beträge. Und drittens entwickelte sich Wirecard sehr schnell vom Startup zu einem global tätigen Unternehmen – was Wachstumsschmerzen verursachte. Es gibt also viele Ansatzpunkte, um schwer nachweisbare beziehungsweise schwer bestreitbare Betrügereien in den Raum zu stellen.
2019 folgte dann aber die «Financial Times» mit konkreteren Hinweisen (zum Wirecard-Dossier der «Financial Times»). Hauptverdacht: Die Bilanz sei künstlich aufgebläht worden. Und der Konzern habe eine rege Geschäftstätigkeit vorgegaukelt, die es gar nicht gibt.
Ein Beispiel, das mittlerweile auch in London vor Gericht verhandelt wird: Im Oktober übernahm Wirecard ein Unternehmen in Indien – einen «führenden indischen Betreiber von inländischen Überweisungen, der täglich mehr als 100’000 Einzelhandelspartner und Millionen von Verbrauchern in ganz Indien erreicht», so die Erklärung. Dafür bezahlten die Münchner 340 Millionen Euro.
Dasselbe indische Unternehmen war kurz zuvor für 37 Millionen Euro an eine Person in Mauritius verkauft worden. Das heisst: Über 90 Prozent des Kaufpreises flossen womöglich an einen Mittelsmann. Als die Prüfgesellschaft KMPG 2019 der Frage nachging, wer letztlich der Empfänger dieser Summe war, konnte sie keine Antwort finden; allerdings fand sie auch keine Hinweise, dass jemand aus dem Wirecard-Management von der Aufblähung profitiert hatte.
Hinzu kamen weitere Ermittlungen – so durch Behörden in Singapur –, die dem Verdacht des «Round-Tripping» nachgingen: Dabei werden irgendwelche Drittparteien bezahlt, die ihrerseits Services des Unternehmens für hohe Summen einkaufen. Was zur Folge hat, dass dieses Unternehmen am Ende solide Umsätze ausweisen kann.
Als Dax-Börsenkonzern steht Wirecard unter verschärfter Beobachtung. Zur Entlastung der Vorwürfe engagierte das Management die externe Prüfgesellschaft KPMG, die dem Verdacht der Unregelmässigkeiten nachgehen sollte. Der Bericht von KPMG, vorgelegt im April, führte aber nicht zu einer Entlastung, sondern stellte klar, dass tatsächlich viele Fragen offen sind.
In einem zweiten Schritt stellte sich jetzt auch der Haus-Revisor von Wirecard, die Auditing-Gesellschaft EY, quer: Sie verweigerte am Donnerstag das Testat für das Geschäftsjahr 2019. Und dabei tauchten weitere Unregelmässigkeiten auf: Für 1,9 Milliarden Euro konnten keine soliden Nachweise erbracht werden.
Das heisst: Diese Summe – immerhin ein Viertel der Bilanz – sollte laut Aussagen der Wirecard-Konzernleitung auf Treuhandkonten zweier Banken in Asien liegen, aber EY kann dies nicht festmachen. Es sind Gelder, die im Akquiring-Geschäft zwischen Händlern und Kreditkartenfirmen zur Absicherung dienen sollen (weshalb sie auch nicht auf konzerneigenen Konten liegen, sondern auf Treuhandkonten).
Wirecard hatte die nun vermisste Summe einerseits als eigene Cash-Position ausgewiesen, was problematisch ist. Und anderseits steht nun die Frage im Raum, ob die Gelder überhaupt da sind.
Das Unternehmen und die Konzernleitung unter CEO und Firmengründer Markus Braun sieht sich als Opfer: Das Problem liege bei den Treuhändern, welche die Wirecard-Konten verwalteten, und womöglich hätten Drittpartner getrickst.
«Frühere erteilte Bestätigungen der Banken wurden vom Wirtschaftsprüfer nicht mehr anerkannt», so eine Erklärung von CEO Braun am Donnerstag. «Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht. Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar. Die Wirecard AG wird Anzeige gegen unbekannt erstatten.» Ein Firmensprecher sagte, Wirecard sei ein mögliches Opfer eines «gigantischen Betrugs».
Tatsächlich gehen auch die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young davon aus, dass «zu Täuschungszwecken» falsche Saldenbestätigungen für die Treuhandkonten ausgestellt wurden, und zwar von einem Treuhänder oder den angedeuteten asiatischen Banken.
Tatsächlich geraten jetzt diverse deutsche Instanzen in die Kritik – so die Börse, welche Wirecard in den Dax aufnahm (also quasi zum Bundesliga-Titel adelte) und trotz klaren Vorhaltungen seit Monaten nicht reagierte.
So ferner die Finanzmarktaufsicht Bafin: Sie witterte das Problem lange in einer anderen Ecke und setzte die Staatsanwaltschaft auf den Verdacht an, dass der Wirecard-Kurs von externen (sprich: ausländischen) Manipulatoren künstlich gedrückt werden sollte. Das führte dazu, dass die Bafin im Februar 2019 bei Wirecard zum ersten Mal ein Verbot für Leerverkaufspositionen einer Aktie erliess.
In der Folge wurde die Münchner Staatsanwaltschaft aktiv – nicht gegen Wirecard, auch nicht gegen allfällige anonyme Drittparteien (welche die Wirecard-Konzernleitung zu ihrer Entlastung anführt). Sondern gegen die «Financial Times». Der Verdacht: «Vergehen nach dem Wertpapierhandelsgesetz.»
In den sozialen Medien kommt schliesslich auch Kritik (oder Spott) insbesondere von britischen Journalisten und Analysten auf die deutsche Wirtschaftspresse, die sich ziemlich reflexartig hinter Wirecard gestellt und auf eigene Recherchen verzichtet habe.
(rap)
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