Die weltweite Konferenz für klinische Alzheimer-Studien gehört normalerweise nicht zu den Veranstaltungen, welche die Biotechindustrie zum Vibrieren bringen. Fast 100 Prozent der Studien mit Alzheimer-Wirkstoffen sind in den vergangenen Jahren gescheitert, darunter auch grosse Studien der beiden Schweizer Konzerne Roche und Novartis.
Doch diesmal war es anders. Gestern Nacht unsere Zeit präsentierte das amerikanische Biotechunternehmen Biogen in San Diego die mit Spannung erwarteten ausführlichen klinischen Studiendaten zu Aducanumab, dem von der Schweizer Neurimmune einlizenzierten Wirkstoff gegen Alzheimer. Das Unternehmen hatte im Oktober in einer beispiellosen Kehrtwende bekannt gegeben, den im März zuvor fallen gelassenen Wirkstoff nun doch zur Zulassung zu bringen.
Nicht ganz überzeugend
Erstes Fazit: Die Datenlage bleibt diffizil. Biogen hatte zwei klinische Studien mit dem Antikörper aus der Schlieremer Wirkstoffschmiede des Neurimmune-Trios mit den Neurowissenschaftern Roger M. Nitsch und Jan Grimm und dem Psychiaters Christoph Hock durchgeführt – Emerge und Engage.
Einzig bei Emerge kam es zu einem statistisch signifikanten Effekt – der Voraussetzung für eine Zulassung. Bei den Patienten, die hochdosiert mit Aducanumab behandelt wurden, kam es zu in einer Verlangsamung des mit Alzheimer verbundenen kognitiven Niedergangs der Patienten – und zwar im Umfang von 23 Prozent.
Bei den Patienten, die eine tiefe Dosis hatten, lag die Quote bei 14 Prozent – sie war also nicht signifikant. Bei Engage kam es bei den Patienten mit der hohen Dosis zu einer Verlangsamung des kognitiven Niedergangs im Umfang von zwei Prozent, bei denjenigen mit der tiefen Dosis verschlechterten sich die Indikatoren um zwölf Prozent.
Die Krux bei der Datenlage: Das Protokoll wurde während der Studien verändert, es wurden mehr Patienten auf die hohe Dosis gesetzt. Biogen versuchte deshalb in San Diego, die Tatsache, dass die Resultate nur zum Teil statistisch signifikant waren, auf darauf zurück zu führen, dass das Protokoll für die Studien verändert wurde.
Nun liegt der Ball bei der FDA
Nun liegt der Ball bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Sie wird entscheiden müssen, ob der Wirkstoff schweizerischer Provenienz als erstes Alzheimer-Medikament in die Medizingeschichte eingehen wird, das den Verlauf der Krankheit beeinflussen kann. Bis jetzt gibt es nur Medikamente, welche die Symptome zu lindern vermögen.
Die FDA dürfte dabei nicht nur die Datenlage in Betracht ziehen, sondern auch die Konsequenzen, die ein ablehnender Entscheid oder eine weitere Verzögerung für die Patienten zu Folge hätte. Denn anders als zum Bespiel bei vielen Krebserkrankungen geht es bei Alzheimer nicht um eine weitere Verbesserung des Therapiestandards, sondern um die erste wirkliche Behandlungsmöglichkeit überhaupt.
Alle drei Sekunden kommt ein Demenz-Patient dazu
Demenz gehört zu den grössten medizinischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Schon 2017 dürften gemäss Alzheimer's Disease International gegen 50 Millionen Menschen weltweit an Alzheimer oder an einer anderen Demenzerkrankung gelitten haben. Alle drei Sekunden kommt ein neuer Patient dazu, die Zahl der Patienten dürfte sich alle zwanzig Jahre verdoppeln und 2050 bei 131,5 Millionen liegen.
Klar ist: Sollte es zu einer Zulassung kommen, so würde das nicht nur bei Biogen, sondern auch bei Neurimmune die Kassen klingeln lassen. Analysten rechnen mit einem Umsatzpotential von drei bis fünf Milliarden Dollar für Aducanumab. Gemäss öffentlich zugänglichen Unterlagen von Biogen liegen die Lizenzgebühren zu Handen von Neurimmune im «höheren einstelligen bis niedrigen zweistelligen» Bereich. Sie dürften also in die Hunderten von Millionen Franken gehen.
Wer hinter Biogen steckt und was das Trio ausmacht lesen Sie hier.
Lesen Sie mehr über die Alzheimer-Forschung in der Schweiz von Seraina Gross hier.