Die Sonne brennt auf Saint-Genis-Pouilly herab. Im französischen Städtchen an der Grenze zur Schweiz füllen sich die Bistros langsam mit Gästen. Auf der Place de la Fontaine plätschert ein Brunnen verlassen vor sich hin. In den Strassen herrscht weniger Verkehr als sonst. Es ist Ferienbeginn. Zeit für Entschleunigung.
Doch die Ruhe trügt. In wenigen Augenblicken wird es auf dem Gemeindegebiet zu Tausenden von Kollisionen kommen. Denn unweit des Stadtkerns rasen mehrere hundert Milliarden kleinster Bleiteilchen mit ungeheurer Geschwindigkeit durch einen Tunnel. Rund 50 Meter unter der Erdoberfläche. Fast so schnell wie das Licht sind diese Blei-Ionen unterwegs. Ihr Reiseziel: eine unauffällige Lagerhalle in einem Werksgelände etwas ausserhalb des Städtchens. Dort steht Alice; sechzehn Meter hoch, zehntausend Tonnen schwer. Das Ungetüm ist dafür verantwortlich, dass die Partikel mit ihresgleichen zusammenprallen.
Alice steht für «A Large Ion Collider Experiment» und ist eines von sechs Labors der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) entlang des Teilchenbeschleunigers LHC (Large Hadron Collider). 2008 fertig gebaut, gehört der 27 Kilometer lange Tunnel zu den grössten Forschungseinrichtungen der Welt. Die Baukosten belaufen sich auf knapp 5 Milliarden Franken, mehr als 10 000 Personen aus über 100 Staaten waren beteiligt.
1200 Wissenschafter experimentieren nunmehr mit Alice. Ihr Ziel ist es, besser zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dazu schauen sie sich die kleinsten messbaren Bausteine von Materie an: die Quarks. Diese Elementarteilchen gehören zu den wichtigsten Bestandteilen von Protonen und Neutronen, die ihrerseits das Herzstück eines Atoms bilden: den Atomkern. Zusammengehalten wird dieses Päckchen von Trägerteilchen, den Gluonen. Die sogenannte starke Kraft in Wechselwirkung mit den Gluonen sorgt dafür, dass das Ganze nicht auseinanderfällt.
Der Koch rührt die Suppe mit Blei an
Diese starke Kraft überwinden und die Quarks und Gluonen einzeln beobachten können – das versuchen die Cern-Physiker mit Alice. Ihre theoretischen Modelle gehen davon aus, dass man die winzigen Teilchen befreien kann. Mit sehr hohen Temperaturen von mehr als 2000 Milliarden Grad Celsius. Man bringt sie sozusagen zum Schmelzen – und was heraus kommt, ist das Quark-Gluon-Plasma, eine Art Ursuppe. Denn in diesem Zustand hat sich die Materie kurz nach dem Urknall vor rund 13,8 Milliarden Jahren befunden, so die These der Wissenschafter. Damit dieser Urzustand im Alice-Labor zumindest für eine Millionstel Sekunde künstlich hergestellt und gemessen werden kann, braucht es die richtigen Zutaten und vor allem viel Schwung.
Rende Steerenberg ist dafür verantwortlich, dass die Rezeptur stimmt. Der Niederländer leitet das Cern-Kontrollzentrum. Ein Grossraumbüro, ausgestattet mit unzähligen Bildschirmen, auf denen Diagramme, Modelle und Zahlen flimmern. Man wähnt sich bei der Nasa oder an einem Desk für Hochfrequenzhandel.
Steerenberg jagt aber nicht etwa Raketen oder Börsenkursen nach. Er schiesst Elementarteilchen auf ihre Reise in die je entgegengesetzte Richtung auf der kreisrunden Rennbahn. Damit die Partikel auf ihren Höllenritt geschickt werden können, erhitzen die Forscher ein reines Bleistück auf 550 Grad. Der Bleidampf, der sich dabei bildet, wird zu einem Strahl komprimiert und in den Teilchenbeschleuniger injiziert. «Wir verwenden für das Alice-Experiment Blei, da wegen der hohen Anzahl Protonen und Neutronen im Bleikern die Energiedichte der Kollisionen viel grösser ist», sagt Steerenberg. Im Vergleich zu anderen Metallen ist so die Wahrscheinlichkeit grösser, dass möglichst viele der Partikel aufeinandertreffen.
Im Beschleuniger selbst herrschen Bedingungen wie im Weltraum. Auf minus 271 Grad wird die Röhre heruntergekühlt. Darin kommt es zu einem Vakuum. Magnete, Supraleiter und sogenannte Hohlraumresonatoren machen die Blei-Ionen schussbereit und beschleunigen sie. Sind sie einmal warmgelaufen, schaffen sie die 27- Kilometer-Röhre bis zu 11 000-mal pro Sekunde. Also nur wenig langsamer als das Licht.
Steerenberg sorgt mit seinem Team dafür, dass die zu Strahlen komprimierten Partikel möglichst nicht aneinander vorbeiflitzen, sondern sich genau bei der Lagerhalle, wo das Alice-Labor steht, wieder treffen. Beim Aufprall werden ungeheure Energien freigesetzt. «Es ist, als würden zwei 400-Tonnen-TGV-Züge mit 150 Kilometern pro Stunde aufeinander zurasen und frontal zusammenprallen», erklärt der Niederländer. Die Kollision erzeugt bis zu 100 000-mal höhere Temperaturen, als im Inneren der Sonne herrschen. So werden die Quarks und Gluonen freigesetzt. Das Plasma entsteht. Einen grossen Knall hören die Bewohner von Saint-Genis-Pouilly aber nicht, wenn die Ursuppe gekocht wird. Höchstens ein dumpfer Schlag sei unter der Erde zu vernehmen. Wie bei einer Schussabgabe.
Auch Wissenschafter bluffen mal
Inzwischen hat der Alice-Detektor den Aufprall registriert. Jetzt muss es schnell gehen. Die winzige Probe des Quark-Gluon-Plasmas kühlt innert kürzester Zeit unter die 2000-Milliarden-Grad-Marke ab, wo sich die Quarks und Gluonen wieder zu normaler Materie verbinden und nicht mehr frei nebeneinander schwimmen. Tausende von Sensoren helfen den Forschern, vorher die Daten aus der Suppe zu fischen und aufzuzeichnen.
Aber nicht alles lässt sich messen. «Für gewisse Analysen müssen wir erst noch die dafür notwendigen Instrumente entwickeln», sagt Friederike Bock. Die Physikerin erforscht beim Cern das Quark-Gluon-Plasma. Bei den sagenhaft hohen Temperaturen seien etwa die herkömmlichen Thermometer überfordert.
Fakten zum Cern
- Gründung 1954
- Sitz Meyrin GE
- CEO Fabiola Gianotti (IT)
- Mitarbeitende: 3500
- Jahresbudget 2018: 1,148 Milliarden Franken
- Weltweite Kooperation mit über 14 000 Wissenschafter
- 22 Mitgliedstaaten
- Geburtsort des World Wide Web
- Der LHC ist mit 27 Kilometer Länge der grösste und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt
In diesen Bereichen könne die Temperatur, ähnlich wie bei der Sonne, nur aus der Wellenlänge des emittierten Lichtes abgeleitet werden. «Doch selbst dann können wir mit unseren derzeitigen Messmethoden nur nachweisen, dass die Temperatur mindestens 1000-mal heisser als im Inneren der Sonne ist.» Die über 2000 Milliarden Grad bei der Kollision der Blei-Ionen seien mehr eine fundierte Schätzung, die auf theoretischen Modellen basiere.
Damit die Wissenschafter ihre Messungen verfeinern können, steht ihnen jährlich ein Milliardenbudget zur Verfügung. Mit einem über die ganze Welt verteilten Computernetzwerk stellen sie sicher, dass die enormen Mengen an Daten analysiert werden können. Ab 2025 sollen stärkere Magnete den Teilchenbeschleuniger noch leistungsfähiger machen. So können Rende Steerenberg und sein Team dereinst bis zu 5 Milliarden Kollisionen pro Sekunde produzieren. Zuvor wird die Rennbahn während zweier Jahre gewartet und umgebaut. In dieser Zeit wird auch Alice keine kosmische Ursuppe produzieren können. Der Titel des heissesten Orts im Sonnensystem geht dann zumindest temporär wieder an die Sonne.