Sie arbeiten an der Wagistrasse in Schlieren, einem wenig glamourösen Vorort von Zürich. Nun könnten sie in die Medizingeschichte eingehen als diejenigen, die den Durchbruch schafften im Kampf gegen Alzheimer: Roger M. Nitsch, Neurowissenschafter und Teilzeit-Professor an der Universität Zürich, Christoph Hock, Psychiater und ebenfalls Teilzeit-Professor an der Uni Zürich, und Jan Grimm, ebenfalls Neurowissenschafter.
Die drei Wissenschafter sind die Köpfe hinter dem 2006 gegründeten Startup Neurimmune. Sie haben den Wirkstoff Aducanumab erforscht, für den die amerikanische Biogen bei der Zulassungsbehörde FDA die Zulassung beantragen will. Dies, nachdem das Unternehmen noch im Frühling zum Schluss gekommen war, dass die Studiendaten nicht für diesen Schritt ausreichten.
«Nobelpreis der Alzheimer-Forschung»
Roger M. Nitsch ist Teilzeit-Professor am Institut für regenerative Medizin an der Uni Zürich sowie CEO und Präsident von Neurimmune. Der Neurowissenschafter mit medizinischem Hintergrund hat mehr als dreissig Jahre Erfahrung in der Alzheimer-Forschung. 2004 bekam er, zusammen mit dem Amerikaner Leon Thai, den von der American Academy of Neurology verliehenen Potamkin-Preis. Die Auszeichung gilt als «Nobelpreis der Alzheimer-Forschung».
Christoph Hock ist Chief Medical Officer von Neurimmune. Auch er zählt zu den international bekannten Forschern auf dem Gebiet von Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten. Der ausgebildete Psychiater ist, wie Nitsch, Teilzeit-Professor am Institut für regenerative Medizin der Uni Zürich.
Der Dritte im Bunde ist Forschungschef Jan Grimm. Er hat zwanzig Jahre in der Biotech-Forschung in den USA und in Europa hinter sich; zuvor war er bei Rinat Neuroscience, einem Unternehmen, das 2006 von der amerikanischen Pfizer übernommen wurde.
Die drei zeichneten bei der Gründung zu je rund einem Drittel die Aktien von Neurimmune. Als weiterer Besitzer kam später Karsten Henco dazu, Chef der Hamburger Biotech-Schmiede Evotec. Er stiess 2007 zum Schlieremer Trio. Heute hat das Unternehmen wesentlich mehr Aktionäre, darunter zahlreiche aktuelle und frühere Mitarbeitende, sowie die Universität Zürich.
Bemerkenswert an der Biotech-Forschungsküche vor den Toren Zürichs ist, dass das Unternehmen trotz beträchtlicher Pipeline und damit beachtlicher Forschungsaufwendungen bis jetzt ohne den Kapitalmarkt ausgekommen ist. Ganz offenbar ist es den drei potentiellen Star-Forschern aus Zürich gelungen, ihre Kooperationen mit Big Pharma so aufzusetzen, dass sie ihre Aufwendungen bestreiten konnten.
Das Unternehmen ist für ein Startup breit aufgestellt. Zur Pipeline gehören nicht potentielle Wirkstoffe gegen Alzheimer, sondern auch gegen Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose – einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems –, gegen Kardiomyopathie, einer Erkrankung des Herzmuskels, und gegen Diabetes.
Niedergang gebremst
Der im amerikanischen Cambridge beheimatete US-Konzern Biogen hatte gestern gemeldet, dass er 2020 bei der amerikanischen FDA die Zulassung für Aducanumab beantragen werde. Dies, nachdem er in einer ersten Analyse der Studiendaten im Frühling zum Schluss gekommen war, dass die Ergebnisse dafür nicht ausreichten.
Die zweite Auswertung zeigte, dass der Wirkstoff den klinischen Rückgang der Gehirnfunktionen in der frühen Phase der Krankheit tatsächlich verlangsamen kann. Er bremse den Niedergang der Gedächtnisleistung sowie die Fähigkeit der Patienten, grundlegende Tätigkeiten selbstständig durchzuführen, meldete Biogen. Die Verbesserung sei statistisch hoch signifikant.
Bei Aducanumab handelt es sich um einen Amyoloid-Antikörper, eine Wirkstoff-Kategorie, die aufgrund zahlreicher gescheiterter Studien nicht mehr viel Kredit hatte.
Sollte es zu einer Zulassung kommen, so wäre das der Durchbruch. Hunderte von Alzheimer-Studien sind in den vergangenen Jahren gescheitert, Milliarden an Forschungsgeldern wurden verbrannt. Auch die Schweizer Konzerne Roche und Novartis mussten in diesem Jahr schwere Rückschläge in der Alzheimer-Forschung hinnehmen.
Bis jetzt gibt es nur Therapien, welche die Symptome lindern. Alzheimer ist die häufigste neurodegenerative Erkrankung. Weltweit erkranken pro Jahr etwa 15 Millionen Menschen neu daran.
Entsprechend stark reagierte der Aktienkurs der in New York kotierten Biogen, als die Neuigkeit bekannt wurde: Er lag am Dienstag um 26 Prozent über dem Schlusskurs des Vortags.
Analysten gehen davon aus, dass sich die Umsätze von Aducanumab auf 3 bis 5 Milliarden Dollar belaufen dürften, sollte es zu einem positiven Zulassungsentscheid kommen. Doch ein Erfolg von Aducanumab würde nicht nur die Kassen von Biogen klingeln lassen, sondern auch diejenigen von Neurimmune. Gemäss öffentlich zugänglichen Unterlagen von Biogen liegen die Lizenzgebühren im «höheren einstelligen bis niedrigen zweistelligen» Bereich.
Der Wirkstoff, auf dem nun die Hoffnungen von Millionen von Alzheimer-Kranken und ihren Angehörigen ruhen, könnte also Hunderte von Millionen Dollar in die Kassen von Neurimmune spühlen.
Dies, nachdem bereits früher Einmalzahlungen über 200 Millionen Dollar von Cambridge nach Schlieren geflossen waren. Im Oktober 2017 zahlte Biogen 150 Millionen Dollar Neurimmune; das Unternehmen verzichtete dafür auf 15 Prozent der Lizenzgebühren, die im Falle eines kommerziellen Erfolgs fällig werden. Im Mai 2018 gab das Unternehmen bekannt, dass Biogen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, die Lizenzgebühren im Tausch gegen eine weitere Einmalzahlung um weitere Einmalzahlung um 5 Prozent zu senken.
Neuroimmune äussert sich darüber hinaus nicht zu finanziellen Fragen.