Geschäftsberichte ... gähn! Wer sich als Wirtschaftsjournalist im Freundeskreis nach dem Stellenwert dieser Publikationen erkundigt, bekommt selten enthusiastische Antworten: Dicke, kaum brauchbare Wälzer seien das, abgefasst in der typisch verblasenen Corporate Speech, gesprenkelt mit Passbildern der Firmenbosse und insgesamt ein unüberblickbarer Zahlenfriedhof.

Natürlich sind solche Umfragen nicht repräsentativ. Aber sie belegen: Hier werden Chancen vergeben. Denn ein Geschäftsbericht ist das Schaufenster eines Unternehmens. Er zeigt, was Firmen treiben und zu bieten haben, gerade auch jene, die keine Verkaufsstellen in der Fussgängerzone betreiben – wie sie arbeiten, organisiert sind, mit Mitarbeitern und Kunden umgehen, was sie ihren Managern zahlen und der Umwelt Gutes tun, und vor allem: wie ihr Geschäft läuft und was sie mit dem Geld ihrer Aktionäre anstellen. Und es gibt keine Vorschriften, dass das Ganze hölzern geschrieben und reizlos aufbereitet sein muss.

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Optische Erfrischungskur

Zentrales Instrument der Selbstdarstellung und zugleich unverzichtbares Mittel der Informationsbeschaffung für die Stakeholder – welche Bedeutung den Geschäftsberichten im Wirtschaftsleben tatsächlich zukommt, beweist Holcim. Der Bauzulieferer, als staubiger, energieintensiver Zementhersteller eigentlich unverdächtig, an allzu viel Ästhetik zu leiden, hat sich vor allem dank einer optischen Erfrischungskur an die Spitze des BILANZ-Geschäftsberichte-Ratings 2015 gesetzt. Ausgerechnet inmitten der Wirren um die Fusion mit dem französischen Konkurrenten Lafarge macht Holcim deutlich, wie viel dem Unternehmen an einer gelingenden Kommunikation mit Aktionären und anderen Anspruchsgruppen liegt.

Wer Holcim verstehen will, dem liefert die Lektüre der 242 übersichtlichen Seiten zuverlässig die erforderlichen Informationen. Vermutlich, mutmasst Martin Hüsler, Aktienanalyst bei der Zürcher Kantonalbank und Mitglied der Schlussjury, folgte Holcim dem sinnvollen Gedanken, «sich während der Verlobungszeit von der besten Seite zu zeigen».

«Authentizität schafft Vertrauen»

«Authentizität schafft Vertrauen», weiss Hans-Peter Nehmer, Kommunikationschef bei Allianz Suisse. Er und seine Berufskollegen verantworten im Regelfall die Aussendarstellung der Firmen – und dieses Interesse drückt sich darin aus, dass der HarbourClub, die Vereinigung der Schweizer Kommunikationsleiter, das Rating koordiniert und verantwortet; Nehmer ist Mitglied des Club-Vorstands und zugleich Jurypräsident. Ein enormer Apparat steht hinter diesem Rating. Drei Teiljurys untersuchen und werten ganz unterschiedliche Qualitäten der Berichte: Qualität, Umfang und Tiefgang der Inhalte, Präsentation, Konzeptideen, Auftritt, und zwar jeweils im gedruckten Bericht und in der Online-Fassung.

Online präsentiert Holcim ihren Geschäftsbericht nicht als blosse Print-Reproduktion, sondern nutzt die gestalterischen Möglichkeiten des Mediums, bietet zudem ein funktionelles Tool, um unterschiedlichste Firmenkennzahlen abzurufen und auf vielfältige Art aufzubereiten. Der gedruckte Bericht kommt im Stil eines aufgeräumten Lesebuchs daher, das in einem ersten Teil, der mittels dreier anschaulicher Reportagen, aufgewertet mit Fotos und Grafiken, Holcims Geschäftsidee und den Firmenslogan «Solutions. Tailor-made» verständlich machen will. Das aufgeraute Cover erinnert farblich wie auch taktil an Holcims Hauptprodukte Beton und Zement.

Swiss Re ohne Bezug zum Business

Etwas zum Anfassen gibt es auch beim Zweitplatzierten Swiss Re. Das Firmenlogo ist mit Lack auf dem Buchdeckel aufgetragen. Was jedoch fehlt, ist ein erkennbarer Bezug zwischen Gestaltung und dem Business der Rückversicherung. Gedruckt liefert Swiss Re einen praktischen Schuber, der neben dem klassischen Bericht ein Unternehmensprofil als Extraheft enthält.

Grundsätzlich eine gute Idee, urteilt Jurymitglied und Investor-Relations-Experte Michel Gerber, zumal es Swiss Re gelingt, ihr komplexes Geschäft mit verständlichen Worten und Diagrammen begreifbar zu machen. Allerdings war die Jury mit der Umsetzung nicht zufrieden: Farbverläufe auf den Seiten von Rot nach Orange oder Grün nach Gelb erinnern «an die Anfangszeit von Präsentations-Programmen», merkt Gerber an, «wo dieses Feature in den neunziger Jahren für die Erstellung von Grafiken der letzte Schrei war».

Angelsächsisch

Und dass die Swiss Re die Erklärung ihrer Geschäftsfelder mit beliebigen Schmuckbildern begleitet, etwa «Grosis», die mit ihren Enkeln schwimmen gehen, sorgte für weiteres Kopfschütteln. «Alles wirkt sehr angelsächsisch», sagt Jürg Trösch diplomatisch, Partner und Mitinhaber von Linkgroup sowie Mitglied der Design- und Schlussjurys: «Farbverläufe wie in den achtziger Jahren und Stock-Bilder – eine Schweizer Agentur würde so etwas wohl nicht machen.» Dafür glänzt der Rückversicherer mit seinem Onlineauftritt, der punkto Informationsdichte womöglich Holcim noch übertrifft.

In der reinen Inhaltswertung war die Swiss Re schon seit Jahren vorne dabei; der Seriensieger beim Value Reporting, die Swisscom, landete jedoch auch 2015 an der Spitze. Swisscom bietet in umfangreichen Texten eine riesige Fundgrube an Informationen, Daten und Markteinblicken. Auch die Zweit- und Drittplatzierten, Credit Suisse und Implantatehersteller Straumann, liegen seit Jahren im Vorderfeld – dank ihrer ausführlichen und eingängigen Darstellung, welche Geschäfte sie wie und warum betreiben.

Doch bisweilen fehlt es eben an der smarten Umsetzung – sodass nur die Swisscom den Sprung unter die besten zwölf im Gesamtranking schaffte. Umgekehrt hat von den Siegern in der reinen Designwertung, Implenia, Valora und Geberit, nur die drittplatzierte Geberit die Endrunde erreicht – dank eines 8. Platzes in der Inhaltswertung. Schönheitssieger Implenia verpasste inhaltlich die Top 20, für Valora reichte es knapp in die Endauswahl. Darin fanden sich in alphabetischer Reihenfolge wieder: Barry Callebaut, Clariant, Geberit, Holcim, Kuoni, Liechtensteinische Landesbank, Schweizerische Post, Sulzer, Swiss Re, Swisscom, Syngenta und Valora.

Konzeptioneller Auftritt

Geberit, Gesamtdritter und in beiden Teilrankings relativ weit vorne positioniert, ist punkto Gestaltung ein Sonderfall. Seit 2011 wird der Geschäftsbericht «von Grund auf als Online-Publikation konzipiert», sagt die Firma selbst, gedruckt wird nur ein Kurzbericht in Form eines dünnen Heftes.

Der Sanitärtechniker verfüge hinsichtlich der Berichterstattung strategisch, inhaltlich und visuell zusammen mit Implenia über den «konzeptionellsten Auftritt über alle Kommunikationskanäle», sagt Designexperte Trösch. Doch bei allem Positiven zeigt der Online-Geschäftsbericht 2015 von Geberit, dass auch Web-Lösungen ihre Grenzen haben, nämlich dann, so Trösch, wenn zu viele Informationen in einen interaktiven Geschäftsbericht gestopft werden.

Auch inhaltlich lasse Geberit «noch gewisse Wünsche offen», sagt Jurymitglied Daniel Haas, Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und damit qua Amt Experte für Geschäftsberichte. Er vermisst online Dokumente zu Investoren-Präsentationen, Webcasts, aber auch Angaben zur Wertschöpfungs-Kennzahl Economic Value Added (EVA); zumal der EVA bei der renditestarken Geberit hervorragend ausfallen würde.

Nachholbedarf

Insgesamt sieht Finanzprofessor Alexander Wagner, Leiter der Inhalte-Jury, die Qualität «im Steigen begriffen»; aktuell seien erstmals mehr als ein Drittel der analysierten Berichte als «genügend» einzustufen, noch vor zwei Jahren erreichte dies erst ein Viertel der Firmen. Auch die Spitze im Value Reporting habe sich weiter gesteigert. In der Breite ortet Wagner jedoch Nachholbedarf, insbesondere in der Darstellung von «Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen» und bei der wertorientierten Vergütungspolitik, sprich: ob und wie Bezahlung und Leistung verknüpft sind. Optimistisch-ironisch merkt Wagner an, er sehe das Qualitäts-Glas «lieber als zu einem Drittel voll als zu zwei Dritteln leer».

Die Designjury bemängelt grundsätzlich, dass viele Gestalter die Print-Ästhetik ins Netz retten wollen, statt die Technik des Webs zu nutzen und ihre Reports über beide Medien hinweg als «Gesamtkonzept» zu begreifen. Holcim und Swiss Re machen das zwar recht gut, Baukonzern Implenia allerdings gilt hier als Musterbeispiel: Mit seinem handlichen Buch im Kleinformat und einer gleichwertigen Weblösung halten Print und Online als Paket zusammen.

Luft nach oben

Wo weiteres Potenzial liegt, zeigt sich etwa bei Clariant, Gesamtsieger 2014: Der Chemiekonzern gefällt mit schmucken Grafiken und einer aufwendigen Foto-Story über Marcia Rios, eine Führungskraft des Konzerns in Brasilien. Doch was Clariant eigentlich «macht», in welchen Produkten die Chemie der Basler steckt, dazu sagt der Geschäftsbericht praktisch nichts. Beim Schmücken der Schaufenster haben Schweizer Firmen also noch viel Luft nach oben.

Das Geschäftsberichte-Rating betreibt eine eigene Website, wo Sie ebenfalls alle Ranglisten finden.