Vom E-Commerce-Olymp in die Untiefen der eidgenössischen Stromwirtschaft. Bastian Gerhard sucht stets die «grössten Challenges», egal ob in Tokio, Berlin oder Zürich. Zuletzt war der Wirtschaftsinformatiker Innovationschef beim deutschen Digital-Fashion-Giganten Zalando. «Als ich dort 2013 anfing, waren wir wenige hundert Mitarbeiter. Heute sind es mehr als 13 000», sagt Bastian Gerhard, dem Zalando mit der Zeit «zu konzernig» wurde.
Nun züchtet der Digital Native, der mehrere Jahre in Japan gearbeitet hat, für Alpiq neue Geschäftsperlen. Als ein Headhunter mit dem Schweizer Strom-Search anklopft, zündet bei Konzernmanager Gerhard wieder der Startup-Funke: «Wir geniessen Narrenfreiheit und haben die nötigen finanziellen Ressourcen. Was kann einem Besseres passieren.»
Schliesslich leistet sich der angeschlagene Schweizer Stromkonzern seit wenigen Monaten einen Cleantech-Brutkasten namens Oyster Lab auf dem Hürlimann-Areal in Zürich, einen Steinwurf von Google Schweiz entfernt. In den Büros, wo bis vor kurzem Jan Schoch und Leonteq ihre Finanz-Strukis zimmerten, herrscht nun elektrisierende Startup-Atmosphäre: Zwischen Fixie Bikes, bunten Zettelwänden und mit Codes übersäten Grossbildschirmen arbeiten Oyster-Lab-Chef Gerhardund sein bald 15-köpfiges Team daran, aus der Welt einen «greener place» zu machen.
Durchfinanzierter Brutkasten
So lautet zumindest das Mission Statement des Alpiq-Inkubators. Der ist direkt beim Digital & Commerce-Chef von Alpiq, Markus Brokhof, angehängt. Brokhof finanziert den Brutkasten auch komplett aus seinen Handelserträgen, hält sich ansonsten aber möglichst raus. Die Oyster-Leute seien frei zu machen, was sie wollen, sagt das GL-Mitglied des Stromkonzerns. «Wir wollten das Lab möglichst fernhalten von den Konzernstrukturen bei Alpiq, wo alles im Detail geprüft wird. Ausserdem haben wir Leute ausgesucht, die ganz bewusst nicht aus der Stromwirtschaft kommen.» Elektro-Know-how habe man schliesslich genug im Konzern.
Was der ehemaligen Monopolbranche mit ihrer starren Infrastrukturdenke fehlt, sind schlanke und schnelle Entwicklungsprozesse aus dem Tech-Umfeld. «Build, measure, learn, repeat», lautet Gerhards agiles Mantra. Von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt sollen denn auch nicht mehr als sechs Monate verstreichen. In jedem Quartal will das Oyster Lab ein neues Geschäftsmodell entwickeln. «Mit unseren Methoden können wir eine Auster knacken», ist der Ex-Zalando-Mann überzeugt. Ob eine Perlmuttkugel darin stecke, sei allerdings schwierig vorherzusagen. Dazu gehöre auch eine Portion Glück.
Was Gerhard und seiner Truppe bei ihrer Austernzucht hilft, sind zwei eiserne Regeln. Regel eins: Was nicht gemessen werden kann, existiert nicht. Regel zwei: Versetze dich stets in die Lage des Kunden. Diese Bottom-up-Kundenempirie exerziert das interdisziplinäre Oyster-Team an ihrem ersten Projekt rigoros durch. Statt eine Technologie zu entwickeln und diese hernach mit viel Marketing-Brimborium kommerzialisieren zu wollen, setzt das Team im Alpiq-Inkubator auf die knochenharte Grassroots-Methode.
«Wir sind in Süddeutschland von Haus zu Haus gezogen und haben bestimmt mit fünfzig Familien Kaffee getrunken und intensiv diskutiert», erklärt der Lab-Chef. Im Fokus: Einfamilienhausbesitzer mit eigener Photovoltaikanlage auf dem Dach. Die Ausgangsfrage: Wie lässt sich der Eigenverbauch ihrer Anlage erhöhen? Rasch kristalisiert sich im Gespräch mit den Häusle-Besitzern für Gerhards Mannschaft ein «grosser Verbraucher» heraus, der «emotional und sexy» zugleich ist: ein Elektroauto für die schwäbische Mittelstandsfamilie. Allerdings klagen die Schwaben, dass ein eigenes elektrisches Gefährt teuer sei und kaum erprobt. Das Oyster Lab hat sodann seine erste Auster zu knacken: Wie lässt sich Elektromobilität für halbwegs ökobewusste Familien alltagstauglich und bezahlbar machen?
Spotify für Elektromobilität
Der Ansatz der Alpiq-Tochter ist so einfach wie bestechend: Ein Abomodell für E-Mobilität, wie Handelszietung bereits im Dezember berichtete. Als Vorbild dienen Netflix, Uber, Spotify und Konsorten mit ihren monatlich abgerechneten Digital-Flat-Services. Wer also bei Oyster ein Elektroabo abschliesst, bekommt ein umfassendes Mobilitätspaket frei Haus: «Wir liefern das E-Mobil, die Ladestation, eine Tankkarte für die öffentliche Ladeinfrastruktur sowie eine Strom-Flatrate für 12 bis 15 000 Kilometer pro Jahr», sagt Gerhard. Das E-Auto-Abo ist bereits prototypisch gebaut und wird nun im Feldtest geprüft. Man stehe in täglichem Kontakt mit mehreren Familien in Süddeutschland, welche das Mobilitätspaket erhalten haben. «Basierend auf ihrem Feedback optimieren wir unser Produkt kontinuierlich», erklärt der Tech-Manager, der höchstpersönlich alle möglichen E-Autos getestet und dabei auch die derzeitigen Limiten kennengelernt hat: Sechs Zapfsäulen habe er in Zürich angefahren, und sechs davon waren private Garagen.
Bereits im ersten Quartal nächsten Jahres soll das Elektroabo auf den Markt kommen. Wiederum in einem limitierten Roll-out mit einer eigenen Website für 50 bis 100 zahlende Kunden, die von Alpiq ein Onboarding erhalten. So tastet sich das Oyster Lab langsam mit stetem Kunden-Feedback ans Optimum heran.
Ob und wie aus dem Elektroabo ein lukratives Geschäft für den Stromkonzern werden soll, steht in den Sternen. Der Oyster-Mann spricht von einem «Mittel zum Zweck», um den Mobilitätsmarkt zu explorieren. Potenzielle künftige Ertragsquellen könnten der Stromabverkauf sein, aber auch das Management von Energieflexibität. Fest steht, die gebeutelte Alpiq will sich aus der Grosshandelsfessel befreien und den Privatverbraucher ins Visier nehmen. Für Gerhard gilt die Maxime: «Wir wollen den Zugang zum Haus, zum Endkunden, beyond the meter.»
* Dieser Artikel ist unter dem Titel «Alpiqs Austernzüchter» am 14. Dezember 2017 in der «Handelszeitung» erschienen.