Die Zahl ist gigantisch: 15 Milliarden Dollar investiert Netflix dieses Jahr in neue Serien und Filme. Da kann die Konkurrenz, egal ob Amazon, Disney oder andere, nicht mithalten. Das Schweizer Fernsehen schon gar nicht. Der Streaming-König aus den USA zieht weltweit immer mehr Kundinnen und Kunden an (siehe Kurvengrafik).
Mittlerweile sind es 150 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, die auf einer halben Milliarde Geräte zuschauen. Netflix hat das Entertainmentgeschäft erfolgreich auf den Kopf gestellt, ist führend im Sammeln von Kundendaten und kommt dabei – ganz anders als zum Beispiel Facebook – ohne Datenskandale aus. Obendrein gilt bei Netflix eine ganz spezielle Mitarbeitendenkultur.
Wie gelingt das alles? Eine Analyse in sechs Kapiteln:
1. So umgarnt Netflix seine Nutzerinnen und Nutzer
Im Kampf um Aufmerksamkeit bleibt nicht viel Zeit. Aus Netflix-Sicht sind es maximal 60 Sekunden. Wer sich einloggt, sollte nicht länger als eine Minute brauchen, um eine Serie oder einen Film auszuwählen.
Findet ein Kunde beim Herunterscrollen in der Bibliothek nichts, hat Netflix etwas falsch gemacht. Umso besser muss das Angebot auf die jeweiligen Zuschauer abgestimmt sein. Personalisierung steht daher bei Netflix an erster Stelle. Hinzu kommen Tricks wie etwa der Netflix-Knopf, der auf vielen Fernseh-Fernbedienungen bereits vorhanden ist. Ein Druck, und schon ist man drin im Programm. Auch die Möglichkeit, das gesamte Angebot im ersten Monat kostenlos zu testen, lockt.
2. So arbeitet Netflix mit unseren Daten
Daten sind alles bei Netflix. Der Techgigant analysiert das Verhalten seiner Nutzerinnen und Nutzer genau. Wer schaut was, wann, wie lange, wo und wie? Jeder der 150 Millionen Kunden und die vielen Familienmitglieder, die den Account zusätzlich nutzen, haben eine individuelle Benutzeroberfläche.
Alles ist darauf abgestimmt. Die Trailer zu den einzelnen Filmen, die Beschreibungen des Inhalts, die Titel der Serien, die Anordnung der Bilder – alles personalisiert. Der Netflix-Algorithmus geht so weit, dass Zuschauerinnen eher Ausschnitte von Serien gucken, die auf Emotionen basieren, während Männer in der Regel Action-Szenen sehen.
Das klingt nach Klischee, doch Netflix teilt Content in noch viel mehr Kategorien ein, etwa in frauenfreundliche Actionfilme, in Eighties-angehauchte Komödien, in Nostalgisches oder Sci-Fi-Politdramen. Dank künstlicher Intelligenz kann Netflix ziemlich zuverlässig voraussagen, welcher Inhalt beim nächsten Einloggen angeschaut wird.
Die Datenchefin von Netflix, Michelle Ufford, war kürzlich in Zürich für einen Vortrag beim GDI und berichtete, wie sie mit ihrem Team analysiert, wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer für eine neue Serie zu erwarten sind. «Dann können wir sagen, für welches Genre wir das Geld einsetzen», so Ufford. Wer genau weiss, was seine Kunden und Kundinnen wollen, kann natürlich ein perfekt zugeschnittenes Angebot kreieren.
Michelle Ufford ist Datenchefin bei Netflix. Sie weiss genau, was die Nutzer sehen wollen. Und was TV von Netflix lernen kann. Lesen Sie das Interview mit Ufford hier.
Das zeigte sich auch bei der Erfolgsserie «Narcos». 2015 gestartet, spielte die erste Staffel in Kolumbien. Mit dem Erfolg produzierte Netflix weitere Ableger der Geschichte rund um Drogenhändler aus Südamerika, so auch «Narcos Mexico» sowie weitere Staffeln. Netflix produziert mittlerweile nicht nur Hunderte eigene Filme und Serien, sondern betreibt auch Studios, in denen das Wissen aus dem Datenfundus einfliesst.
Dass Netflix immer häufiger auch bei den Oscars mitmischt, sorgt für Unmut in der Kinobranche. Überhaupt: Kritik am Netflix-Modell gibt es etwa dafür, dass die Zuschauer sich immer mehr in ihrer eigenen Film-Filterblase aufhalten würden. Derweil schraubt Netflix weiter an der Weiterentwicklung der Datenübertragung. Das ist auch nötig.
Das Netflix-Streaming macht 15 Prozent des globalen Internet-Traffic aus. Überall auf der Welt gibt es unterschiedliche Download-Geschwindigkeiten und je nach Gerät und Standort kann Netflix den Content anpassen. So werden Gesichter, die sich im Hintergrund befinden und nicht entscheidend zum Handlungsstrang beitragen, leicht unscharf, ohne dass dies dem Zuschauer auffällt.
Bei einer Liebesszene etwa werden Gesichter der Protagonisten schärfer gestellt, damit die Emotionen genau erkannt werden, während der Hintergrund leicht verschwimmt. «Es gibt Millionen von Frames für jede einzelne Serie», sagt Ufford. Software hilft, zu entscheiden, welche Einstellungen in einem einzelnen Bild mit welcher Qualität dargestellt werden.
3. So gelang der Siegeszug von Netflix
Angefangen hat Netflix 1997 in den USA, mittlerweile ist das Unternehmen in mehr 190 Ländern präsent. Anfangs verschickte Netflix DVD per Post. In den USA gibt es den Versand von DVD und Blue-Ray noch immer – für Online-Abstinenzler.
Ein guter Schachzug war, sich Lizenzen von alten Filmen und TV-Serien zu sichern. Die waren fürs Fernsehen und Kino nicht mehr relevant, viele Zuschauerinnen und Zuschauer hatten daran aber noch Interesse. So konnte sich Netflix Inhalte günstig zulegen und ein grösseres Angebot aufbauen.
Später, ab 2007, als Netflix begann, sein Angebot zu streamen, hatte es damit auch die Streaming-Rechte für die alten Filme. Erst 2013 lancierte Netflix die erste eigene TV-Serie: «House of Cards». Sie wurde aber nicht Schritt für Schritt veröffentlicht, wie in der TV-Branche üblich, sondern sofort komplett. Binge-Watching, also Koma-Glotzen mit all seinen ungesunden Nebenwirkungen war geboren. Heute fragen sich viele Streaming-Kunden, wann sie die vielen Serien überhaupt gucken sollen.
Doch die Verbreitung von schnellen Internetanschlüssen (auch mobil) hat die Netflix-Popularität massiv gesteigert. Das grösste Netflix-Angebot gibt es mit 4100 Filmen und 1700 Serien in den USA (Zahlen für 2018). Die Schweiz verfügt über 4090 Filme und 1500 Serien. In China ist Netflix nicht erlaubt, allerdings gibt es Netflix in Mandarin.
Netflix gehört weltweit zu den Top-Ten-Internetfirmen, was den Marktwert angeht. 2002 kam der Börsengang. In den vergangenen fünf Jahren verbuchte die Aktie ein Plus von rund 40 Prozent. Der Gewinn schwankt deutlich und betrug im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Dollar.
Wo die Reise hingeht für Netflix? Die Antwort lautet stets: globales Wachstum, auch wenn das viel kostet und die Schuldenlast erheblich ist. 2018 machten die internationalen Abos 49 Prozent des Umsatzes aus. Klassisches Kabelfernsehen hat gegen Netflix, besonders in den USA, längst verloren, auch die Hollywood-Studios haben das Nachsehen. Nun rüsten viele Streaming-Dienste wie Amazon auf, um gegen Netflix zu bestehen.
Manche Analysten halten den Erfolg von Netflix für «unaufhaltsam». Doch der Streamingdienst muss sich das eine oder andere einfallen lassen, um auch an der Börse weiterhin punkten zu können. Mehr dazu lesen Sie hier bei cash.ch
Der NBC-Konzern entschied kürzlich, dass die Erfolgsserie «The Office» ab 2021 nicht mehr bei Netflix laufe, sondern auf dem eigenen Streaming-Dienst, der 2020 loslegt. Die grössten Wettbewerber sind aus Netflix-Sicht aber nicht andere Streaming-Dienste.
Netflix schrieb seinen Anlegern, dass «unser Fokus nicht auf Disney+, Amazon und anderen liegt», vielmehr gehe es darum, sicherzustellen, wie man Schritt halten könne mit dem Mega-Game «Fortnite». Der Kampf um die Aufmerksamkeit einer digitalen Kundschaft, die irgendwo surft, um dann anderswo online zu konsumieren, ist auch für Netflix elementar.
4. So läuft es für Schweizer Kunden
Als Netflix 2014 in die Schweiz kam, gab sich Chef Reed Hastings betont bescheiden und sagte im Interview mit der «Handelszeitung»: «Wir sind kein Ersatz für Swisscom oder UPC Cablecom.» Schon damals war klar, dass das freundliche PR-Floskeln sind. Aber heute steht umso mehr fest, dass Hastings in einer ganz anderen Liga spielt als lokale Entertainmentanbieter. Hastings sagte auch, dass der Markt hierzulande zu klein sei, um eigene Schweizer TV-Serien zu produzieren.
Immerhin: Nun kommt «Wolkenbruch» als erster Schweizer Film auf Netflix. Seit Netflix in der Schweiz ist, gab es drei Preiserhöhungen; Kunden zahlen hier im weltweiten Vergleich fast am meisten für ihr Abo.
Was Netflix im Grossen vormacht, will anscheinend auch das Bundesamt für Kultur machen. So soll es bis zum Jahr 2024 einen Streaming-Dienst für Schweizer Filmproduktionen geben, denn die Steuerzahler haben ja schon die vom Bund subventionierte Kinofilme bezahlt. Auch bei der SRG soll es bis 2020 eine neue Streaming-Plattform geben. Das zeigt: Alle wollen wie Netflix sein.
5. So beeinflusst Netflix andere Branchen
Viele Firmen versuchen, vom Netflix-Prinzip zu lernen. Wer bei Google den Satz «What every business owner can learn from Netflix» eintippt, bekommt kurz und knapp fünf Ratschläge gezeigt. Erstens: «Address a need. (Remember video rental company Blockbuster?).» Zweitens: «Look to the future.» Drittens: «Never give up.» Viertens: «Keep innovating.» Und fünftens: «Focus on growth.»
Das klingt einfach – und birgt viele Wahrheiten. Sicher ist: Netflix hat das Abomodell sexy gemacht – und daraus wollen besonders Medienfirmen lernen. Aber auch Netflix muss agil bleiben und offeriert nun Videospiele, die auf seinen Serien basieren.
6. So ist Netflix als Arbeitgeber
Das Geheimnis von Netflix ist nicht nur das Analysieren des Nutzerverhaltens. Auch die Firmenphilosophie ist entscheidend. Transparenz wird grossgeschrieben. Das heisst, die 7000 Mitarbeitenden haben auf fast alle Daten Zugriff. Es gebe keine komplizierten Prozesse, kein ständiges Monitoring, keine nervtötende Compliance. «Das Vertrauen ist gross – und das muss es auch sein, wenn man eine datengetriebene Firma ist», sagt Ufford. Fast jedes Dokument ist für jeden und jede vollständig zum Lesen und Kommentieren zugänglich.
Freiheit bei Spesen und Ferien
Entscheidungen zu den Strategien, Konkurrenten und Produkten stehen allen Mitarbeitenden jederzeit zur Verfügung. Die Richtlinie für Reisen, Bewirtung, Geschenke und andere Ausgaben lautet kurz und bündig: «Handeln Sie im besten Interesse von Netflix.»
Für Ferien gilt: Es gibt keine Regeln, wie viele Wochen pro Jahr man nehmen darf. Formulare? Fehlanzeige! Man vermische Arbeit und Privates sowieso. Motto: Lieber gut erholt aus den Ferien mit einer guten Idee, statt lange im Büro zu hocken. Und: Man soll E-Mails schreiben, wenn man Zeit dafür hat, und an einen Kindergeburtstag gehen, wenn er stattfindet.
Alle Mitarbeitenden wählen jedes Jahr, wie viel von ihren Vergütungen sie als Lohn oder als Aktienoptionen erhalten möchten. Trotz allen Freiheiten gibt es «für Belästigungen von Mitarbeitern oder den Handel mit Insiderinformationen keine Toleranz».
Hohe Bezahlung
Aber wie bei allen Techfirmen gilt ebenso für Netflix: Die hohe Bezahlung und Eigenverantwortung soll zu einer überdurchschnittlichen Leistung führen. Wer nicht liefert, muss gehen. Eine Probezeit gibt es nicht, Kündigungen sind unkompliziert. Netflix sagt: Biete Kontext, nicht Kontrolle. Das heisst, man schafft für Mitarbeitende eine Vision und Transparenz, statt ihnen Arbeiten vorzuschreiben.
Fürs Management gilt: «Blamiere nicht die Mitarbeitenden, sondern frage dich, warum du ihnen nicht die richtigen Mittel zur Verfügung gestellt hast.»
Die Botschaft fasst das Unternehmen auf seiner Job-Website mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry zusammen: «Wenn du ein Schiff bauen willst, trommle nicht die Leute zusammen, um Holz zu sammeln, mach keine Arbeitsteilung und gib keine Befehle. Lehre sie stattdessen, sich nach dem grossen, weiten Meer zu sehnen.»
- Dieser Beitrag erschien erstmals im Juli 2019.