Herr Cadonau, zeigen Sie mir doch bitte, was Sie im Hosensack haben.
Riet Cadonau: Ich habe nichts im Hosensack.
Nicht mal ein Sackmesser, wie es sich für einen anständigen Schweizer gehört?
Nein.
Aber doch sicher einen Schlüsselbund...
Nicht im Hosensack. Aber ich kann Ihnen gerne meine Schlüssel zeigen.
Gern.
Also, hier. Wie Sie sehen, habe ich immer noch Schlüssel am Schlüsselbund. Natürlich von Kaba.
Alles andere hätte mich auch enttäuscht. Ich zeige Ihnen auch meine Schlüssel. Hier die für die Wohnung. Und hier der Autoschlüssel.
Der Autoschlüssel, sehr interessant. Eigentlich eine Funkfernbedienung, aber bei den allermeisten ist noch ein mechanischer Notschlüssel integriert. Quizfrage: Wer stellt den her?
Ich nehme mal an: Dormakaba.
Richtig.
Aber es steht nirgends Kaba drauf. Nur Seat.
Trotzdem ist ein Teil dieses Autoschlüssels von uns.
Bei allen Marken?
Bei vielen jedenfalls. Aber selbst wenn wir unsere Marke draufschreiben dürften, wäre es nicht Dormakaba, sondern Silca. Wir liefern an grosse Lieferanten der Autoindustrie wie zum Beispiel Valeo.
Nun aber zurück zu Ihren Schlüsseln. Das sind – im Gegensatz zu meinen – nicht reine Schlüssel, da ist auch Elektronik drauf.
Richtig. Meine Schlüssel sind mit einem Chip ausgestattet. Genau wie die Badges, mit denen wir in unsere Büros kommen. Mein Schlüssel bestätigt elektronisch meine Zugangsberechtigung. Danach wird mit dem Schlüssel die Mechanik der Türe bewegt. Wir reden von Mechatronik.
Mechatronik bringt mehr Sicherheit?
Der grosse Unterschied ist: Wenn Sie Ihren rein mechanischen Schlüssel verlieren, müssen Sie den Zylinder auswechseln, womöglich im ganzen Haus. Jeder, der Ihren Schlüssel hat, kann in Ihre Wohnung rein. Wenn ich hingegen meinen mechatronischen Schlüssel verliere, kann ich ihn elektronisch sperren. Wenn jemand mit meinem Schlüssel dann in mein Haus will, dreht der Schlüssel leer im Zylinder.
Name: Riet Cadonau
Funktion: Präsident und Konzernchef Dormakaba
Alter: 57
Familie: verheiratet, eine Tochter, ein Sohn
Ausbildung: Ökonom, Universität Zürich
Karriere:
seit Oktober 2018: Präsident Dormakaba
seit 2015: Konzernchef Dormakaba
2011 bis 2015: Konzernchef Kaba
2007 bis 2011: Konzernchef Ascom
Und das Schloss ruft gleich die Polizei?
Nein. Aber unser Jemand kommt nicht rein. Und ich muss meine Zylinder nicht ersetzen, sondern nur neu programmieren.
Mechatronische Schlüssel sind ja nun keine Neuheit, es gibt sie seit zwanzig Jahren. Warum gibt es überhaupt noch rein mechanische Schlüssel wie meine?
Weil mechanische Schlüssel oft dreissig Jahre funktionieren, ohne Pflege, ohne Aufwand, ohne gar nichts. Wenn ein Architekt unsere Mechanik einbaut, hört er nie mehr etwas von seinem Bauherrn. Die Schlüssel funktionieren einfach. Mechatronische Schlüssel dagegen brauchen alle paar Jahre neue Batterien.
Ist es eine Schweizer Besonderheit, dass immer noch sehr viele mechanische Schlüssel verwendet werden?
Ich sage immer: Apple hat es einfach.
Das mag sein, aber was wollen Sie damit sagen?
Apple verkauft auf der ganzen Welt das gleiche Produkt. In Kolumbien, Korea und in der Schweiz. Wir hingegen verkaufen in jedem Land andere Produkte, weil jeder Markt nach anderen Produkten verlangt.
Konkret?
In Südkorea erfolgt der Zugang zu Wohnbauten praktisch ausschliesslich per Fingerabdruck. In der Schweiz ist das kaum akzeptiert. Ein Italiener wiederum möchte möglichst viele Schlüssel im Hosensack haben. Und in der Schweiz haben wir das sogenannte Master Key System (MKS) – also ein Schlüssel für verschiedene Zylinder respektive Türen. Wir machen mit dem gleichen Schlüssel nicht nur die Haustüre, sondern auch die Garage und den Briefkasten auf. Was ich sagen will: Jeder Markt ist anders. Selbst bei simplen Dingen wie Türschliessern.
Oder bei Schlössern für Hotelzimmertüren. Der Amerikaner mag es gross und robust, der Europäer schlank und unauffällig. In unserer Industrie sind lokale Standards wichtig. Wir Schweizer zahlen 300 Franken für einen Schliesszylinder, technisch ausgefeilt und mit hoher Sicherheit. Ein Amerikaner aber zahlt 30 Dollar. Da bekommt er natürlich auch eine ganz andere Technik. Und: Der Zylinder für die Amerikaner wird in China produziert, der für die Schweizer in Wetzikon. Das heisst: Wenn jemand Ihr Schloss mit Araldit verklebt, können wir den Zylinder quasi über Nacht ersetzen.
Interessant! Aber in ein paar Jahren werden wohl überall rein elektronische Systeme – Fingerabdruck, Iris-Scan, was auch immer – Zugang ermöglichen.
Nein. Die Schreibmaschine wurde zwar mal vom PC verdrängt. Und der PC wird vom Smartphone bedrängt. Aber in unserer Industrie existieren Mechanik, Elektronik und cloudbasierte Lösungen nebeneinander.
Da ist Ihr Wunsch Vater des Gedankens?
Nochmals nein. Ich versichere Ihnen: Auch in zwanzig Jahren werden Sie auch in kommerziellen Gebäuden – Flughäfen, Büros – mechanische Schliesssysteme sehen.
Warum?
Weil die Betreiber im Notfall auch ohne Strom die Türen öffnen müssen. Das geht nur mit Mechanik.
Ihr Geschäft wird also immer schlimmer...
Interessanter.
Aber komplexer. Und Komplexität ist teuer.
Richtig. Komplexität ist aber auch eine Eintrittsschwelle.
Zusammenschluss 2015 haben sich die Unternehmen Dorma aus Deutschland und Kaba aus der Schweiz unter dem Dach von Dormakaba zusammengeschlossen. Das Unternehmen mit Sitz in Rümlang ZH setzte im letzten Geschäftsjahr 2,84 Milliarden Franken um und schrieb einen Betriebsgewinn von 364 Millionen Franken, deutlich mehr als im Vorjahr. Der Konzern beschäftigt weltweit über 16'400 Personen.
Zugang Alles, was mit dem Zugang zu Räumen und Gebäuden zu tun hat, können Kunden bei Dormakaba kaufen. Schlösser, Drehtüren, elektronische Zutrittssysteme, Sicherheitsschlösser und so weiter. Ursprünglich wurden bei Kaba in Rümlang Tresore hergestellt.
Ist das relevant? Es kommt ja heute niemand auf die Idee, eine Schlüsselfirma zu gründen und auf die Grossen wie Dormakaba loszugehen.
Es gibt heute viele junge Unternehmen, die sich mit Zutrittstechnologien beschäftigen und entsprechende Smartphone-Lösungen anbieten. Sie brauchen aber Spezialisten wie uns, um auch die Verbindung zwischen Elektronik und Mechanik anbieten zu können. Aber ich sage immer: Wir dürfen nicht bequem werden, sonst haben wir eines Tages verloren. Auch als ein marktführendes Unternehmen.
Aber Sie haben doch Kaba und die deutsche Dorma zu Dormakaba kombiniert, um kleinen Startups keine Chance zu lassen?
Ich würde es anders formulieren: Wir haben aus dem internationalen Nischenanbieter Kaba den globalen Vollsortimenter Dormakaba geformt. Dormakaba kann Kunden alles anbieten, was diese im Zusammenhang mit dem sicheren und smarten Zugang zu Gebäuden und Räumen brauchen. Und da reden wir nicht nur von Schliesssystemen und elektronischer Zutrittskontrolle, sondern eben auch von Drehtüren, Drehkreuzen oder Schiebetüren.
Wollen Ihre Kunden überhaupt alles aus einer Hand? Das gibt ja auch Abhängigkeiten.
Wir stellen insbesondere in Asien, vermehrt aber auch in Nordamerika fest, dass die Kunden genau das wollen: alles aus einer Hand. Ein Beispiel: das Terminal 4 am Changi Airport in Singapur. Dort haben wir die Ausschreibung gewonnen und konnten sieben unserer acht Produktgruppen liefern. Und weshalb haben wir gewonnen? Weil es für die Verantwortlichen solcher Grossprojekte zu kompliziert wäre, unterschiedliche Lieferanten zu managen. Wenn eine Türe nicht aufgeht, obwohl sie aufgehen müsste, hat der Flughafen ein Problem, das dringend gelöst werden muss. Jetzt ruft er einfach bei uns an und wir lösen das Problem.
Ich kann Ihnen folgen. Aber nochmals: Die Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten ist kein Thema für Ihre Kunden?
Doch. Internationale Hotelketten zum Beispiel arbeiten fast immer mit mindestens zwei Lieferanten. Aber: In unserer Industrie gibt es zwar ganz viele Anbieter, jedoch nur wenige globale Vollsortimenter wie uns.
Ist der smarte und sichere Zugang, also das, was Sie anbieten, erfunden? Oder kommt bald die Türöffnung per Gedankenübertragung?
Die technische Entwicklung vorauszusagen, halte ich für sehr schwierig. Niemand weiss, wie sich die Technologie verändern wird. Was ich aber weiss: Aufbauend auf unseren Kerntechnologien haben wir noch zig Möglichkeiten, unser Geschäft und unsere Beziehung zum Kunden auszubauen. Beispiel Hotels: Früher verkauften wir dem Hotel die Schlösser. Heute machen wir das ebenfalls, bieten aber zusätzlich den Service an, dem Hotelgast einen elektronischen Schlüssel aufs Smartphone zu schicken, damit dieser die Hoteltür ohne Umweg über die Rezeption öffnen kann. Dafür zahlt uns das Hotel eine Jahresgebühr pro Zimmertür.
Und Sie verdienen mehr.
Sicher. Entscheidend aber ist: Als reiner Komponentenhersteller läuft man schneller Gefahr, austauschbar zu werden. Services wie der smarte Zimmerschlüssel erlauben es uns, relevant zu bleiben und uns von der Konkurrenz abzuheben. Unsere Lösung läuft auf einer sicheren privaten Cloud in der Schweiz. Auch das ist ein gutes Verkaufsargument.
Strategisch erinnert das an Apple. Das Kernprodukt iPhone wird durch komplementäre Services wie Apple Pay oder den App Store gepusht.
Richtig. Auch Amazon pusht E-Books mit ihrem Kindle, wobei dieser Reader der komplementäre Teil des Kerngeschäfts E-Books ist. Weiteres Beispiel von uns: Wir bieten KMU Zutrittskontrolle as a Service, ein komplementärer Service zu unseren Kernprodukten. Die KMU müssen sich nicht selbst darum kümmern, wir tun es für sie. Und verdienen pro Tür und Monat etwas dazu. Aber: Das Gros der Erlöse soll weiterhin von den Kernprodukten, also den Schliess- und Zutrittssystemen, kommen.
Wie stellen Sie sicher, dass Dormakaba in Sachen Digitalisierung und technologische Entwicklung immer up to date bleibt?
Wir beobachten die Startup-Szene in unserer Industrie sehr genau und investieren auch in vielversprechende Startups. Und wir haben einen Inhouse-Inkubator.
Das sind die Kollegen mit dem Badminton-Netz vor dem Büro?
Gut erkannt. Wir nennen diese Einheit Dormkaba Digital; sie haben auch Kollegen in Montreal und Singapur. Diese Einheit ist unserem Technologiechef direkt unterstellt und arbeitet an neuen Services, wie wir sie bereits besprochen haben.
«Die Digitalisierung ist in China oft viel durchdringender als bei uns oder in den USA.»
Nicht schlecht: Singapur, Montreal – und Rümlang. Aber im Ernst: Montreal?
Dormakaba hat dort eine grosse Präsenz. Dann hat die Stadt sehr gute technische Hochschulen. Es ist einfacher dort, einen Ingenieur zu finden als in der Schweiz. Und schliesslich unterstützt die Stadt – genau wie Singapur – Investitionen mit steuerlichen Anreizen.
Innovationen brauchen gewisse Freiräume, Risikobereitschaft – und Geld.
Absolut. Deshalb stecken wir 4 Prozent des Umsatzes in IT-Investitionen. Und weitere 4 Prozent des Umsatzes in Innovation. Weit mehr als die Konkurrenz.
So kommen über 200 Millionen pro Jahr zusammen.
Richtig. Wir reden von viel Geld.
Von wem lernen Sie?
Derzeit sehr viel von den Chinesen.
Und was?
Gerade was die Kundenerfahrung angeht, sind uns die Chinesen in vielem voraus. Beispiel Parkhaus: Bei uns fahren Sie rein, ziehen ein Ticket, das Sie hoffentlich nicht verlieren, schieben das Ticket zum Bezahlen in den Automaten, brauchen oft sogar noch Bargeld – und beim Rausfahren müssen Sie das Ticket nochmal stecken. Eher umständlich. In China läuft das so: Rein, Autonummer-Erkennung, raus, Alipay. Die Digitalisierung ist in China oft viel durchdringender als bei uns oder in den USA.