Doris Russi wer? Die Reaktion ist immer dieselbe, wenn die Rede auf Doris Russi Schurter kommt. Vor kurzem wurde sie als Helvetia-Präsidentin nominiert, im April übernimmt sie offiziell die Führung des Versicherungskonzerns, die sie seit dem unfreiwilligen Abgang von Vorgänger Pierin Vincenz interimistisch hält. Bekannt ist Russi Schurter bisher nur innerhalb von Helvetia. Und in Luzern, wo die gebürtige Andermatterin – mit Skilegende Berhard Russi ist sie nicht verwandt – seit dreissig Jahren lebt.
Nun sitzt Russi Schurter mit einem doppelten Espresso am Tisch ihrer Luzerner Anwaltskanzlei Burger & Müller. Sie empfängt uns im Besprechungszimmer, nicht im eigenen Büro. Das ist vielleicht Zufall, passt aber. Über Russi Schurters private Seiten weiss man wenig. Homestorys macht sie nicht, an gesellschaftlichen Anlässen meidet sie die Presse. Sie behält gerne die Kontrolle. Dadurch könne sie gelegentlich etwas steif wirken, sagt einer, der sie gut kennt.
Die studierte Juristin ist verheiratet mit Hans-Rudolf Schurter, einem Unternehmer, den sie vor bald vierzig Jahren als Praktikantin beim Bankverein kennengelernt hatte. Sie hat einen Sohn und lebt in einem unauffälligen Haus am Stadtrand Luzerns. Und sie rudert – wie alle in der Familie.
Kündigung war Startschuss zur Karriere
Russi Schurter wirkt jünger als ihre 61 Jahre. Das liegt vielleicht daran, dass sie ihr berufliches Leben vor zehn Jahren nochmals komplett auf den Kopf gestellt hat. Damals blickte sie auf eine lange Karriere beim Beratungsunternehmen KPMG zurück, wo sie zuletzt die Luzerner Filiale geführt hatte. «Ich hätte das noch zehn weitere Jahre machen können und dann mit 60 zurücktreten, wie das bei Partnern üblich ist», sagt sie. «Doch ich hatte alles gesehen und wollte noch einmal etwas anderes.» Und so wurde sie Profiverwaltungsrätin.
Die Kündigung bei KPMG war der Startschuss für die Karriere bei Helvetia, die sie bereits gut kannte, war sie doch seit einigen Jahren Delegierte der Patria Genossenschaft, des Überbleibsels der gleichnamigen Basler Versicherung, die 1996 mit der St. Galler Helvetia fusioniert wurde. Ihr Name wurde aus dem Logo gestrichen, doch die Genossenschaft lebt als Helvetia-Aktionärin weiter. Wenig beachtet, im Hintergrund. Patria ist eine Mischung aus Sozialwerk und Kampfkasse. Dividenden, die an sie fliessen, gehen grösstenteils zurück ins Lebensversicherungsgeschäft von Helvetia. Gleichzeitig sichert Patria mit ihrer Sperrminorität von 34 Prozent auch die Unabhängigkeit. «Eine geniale Konstruktion», findet Russi Schurter.
Auf dem Radar von Silvio Borner
Patria war Russi Schurters Trainingsfeld. Massgeblich gefördert wurde sie vom damaligen Patria-Präsidenten und Helvetia-Vizepräsidenten Silvio Borner. «Er hatte mich vermutlich schon länger auf dem Radar und warb mich wohl gezielt mit Blick auf Helvetia an, auch wenn das nie explizit abgesprochen war», sagt Russi Schurter.
Borners Plan ging auf. 2008 wurde Russi Schurter Helvetia-Verwaltungsrätin, 2011 löste sie Borner im Vizepräsidium ab. Und so sass sie auch im Boot mit dem langjährigen Helvetia-Präsidenten Erich Walser, als dieser 2014 Nationale Suisse kaufte und in einem epischen Bieterstreit die Mobiliar ausstach. Sie stand bereit, als Walser wenig später überraschend an Krebs verstarb. «Erich Walser erzählte mir noch kurz vor Weihnachten, er gehe in die nächste Chemotherapie und sei zuversichtlich», so Russi Schurter. «Zehn Tage später war er tot.»
2015 wurde Russi Schurters Bewährungsjahr. Als Interimspräsidentin führte sie den Verwaltungsrat während fast eines Jahres. Sie war gefordert. Es galt, Nationale Suisse zu integrieren und neue Verwaltungsratskollegen einzubinden. Zum Walser-Nachfolger gekürt wurde dann aber nicht sie, sondern Pierin Vincenz. Man suchte jemanden, der Wind in die angestaubte Helvetia bringen würde. Und auf dieses Profil passte der umtriebige Bündner irgendwie besser als die konziliante Urnerin.
Russi Schurter war mittlerweile Multiverwaltungsrätin. Neben Helvetia hält sie heute Mandate bei der Fluggesellschaft Swiss, der LZ Medien Holding und der Luzerner Kantonalbank (LUKB) – bei den letzten beiden als Präsidentin. Bis vor einem Jahr war sie zudem Vizepräsidentin der Stromnetzgesellschaft Swissgrid. Das Amt gab sie auf, um für das LUKB-Präsidium Platz zu machen.
Doch nun wird erste Kritik laut. Als sie auch noch bei Helvetia als Präsidentin nominiert wurde, empfahl die NZZ der Urnerin, ihren Rucksack vor der steilen Bergtour etwas zu erleichtern. Schwierig könnte vor allem das Bankpräsidium werden, denn in den letzten Jahren hat sich der Wettbwerb zwischen Banken und Versicherern intensiviert. Die Versicherer haben das Hypothekargeschäft ausgebaut und stossen im «Leben» immer weiter ins Geschäft mit Fonds vor.
Das gab auch bei Helvetia zu reden. Vincenz nutzte 2015 das Machtvakuum, um eine Debatte über Allfinanz anzustossen. Er dachte dabei vor allem an eine engere Zusammenarbeit mit seiner Raiffeisen. Das kam nicht nur in der Geschäftsleitung von Helvetia schlecht an, sondern auch bei Helvetia-Partnerin Vontobel, die wie Raiffeisen an Helvetia beteiligt war. Mittlerweile haben sich beide Banken aus dem Aktionariat verabschiedet, womit Russi Schurter als Bankvertreterin an Bedeutung gewonnen hat. Ein Problem sieht sie darin nicht. «Im Falle eines Interessenkonflikts gelten für mich die üblichen Ausstandsregeln», betont sie.
Bisher gelang Russi Schurter die Balance zwischen den Branchen ganz gut. Leute, die mit ihr gearbeitet haben, attestieren ihr hohe Professionalität und gute Dossierkenntnis. Am herausforderndsten sei das Einarbeiten in die Welt des Stroms gewesen, sagt sie. «Das war sicher schwieriger als die Versicherungsbranche.» Nachhilfe holte sie sich da bei ihrem Sohn, einem ETH-Ingenieur. «Er erklärte mir dann erst einmal, was Blindenergie ist», erzählt Russi Schurter.
Mit Erfolg. Unter den branchenfremden Verwaltungsräten von Swissgrid sei sie die schnellste und interessierteste gewesen, sagt einer, der mit ihr im Gremium sass. Sie habe im Gegensatz zu anderen auch stets «die richtige Flughöhe gehalten». Habe sich nicht um unwichtige Details, sondern nur um strategsische Fragen gekümmert. Das attestiert ihr auch LUKB-Verwaltungsrat Josef Felder. «Sie hat eine saubere Vorstellung zur Trennung von operativen und strategischen Fragen.»
Einem wird das helfen: Helvetia-Konzernchef Philipp Gmür. Haftete dem bisherigen Präsidenten Vincenz der Ruf an, sich weit ins Operative einzumischen, legt Russi Schurter Wert auf Struktur. Das zeigt sich auch im Gespräch mit ihr. Grosse Ankündigungen zur Ausrichtung von Helvetia wolle sie erst machen, wenn sie Präsidentin sei, sagte sie im Vorfeld des Treffens.
Priorisierung der Projekte nötig
Russi Schulters erstes Traktandum bei der Helvetia wird eine Konsolidierung der digitalen Initiativen sein. Unter Vincenz seien viele Projekte angestossen worden, sagt sie. Und die Ruderin ergänzt: «Projekte, die wir zum Teil wie eine Bugwelle vor uns herschieben.» Da müsse man sicher eine Priorisierung diskutieren. Sie will vor allem auf die Hypothekenplattform Moneypark setzen, die zum «Ökosystem Home» ausgebaut werden soll. «Das hat Potenzial – und vor allem auch Renditepotenzial», so Russi Schurter. Allerdings dürfe man bei allen Digitalisierungsprojekten nicht vergessen, wo man das Geld verdiene. «Das ist noch immer im klassischen Versicherungsgeschäft.»