Aus den Manipulationsvorwürfen gegen den deutschen Zahlungsabwickler Wirecard ist ein handfester Bilanzskandal geworden, es gibt den Verdacht auf «gigantischen Betrug». Der im deutschen Leitindex Dax kotierte Konzern verschob am Donnerstag ein weiteres Mal die Vorlage seiner Jahresbilanz für 2019.
Der Grund: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY stellte kein Testat für die Bilanz von Wirecard aus. Denn bei Buchungen über 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien ist wegen Täuschungsverdachts unklar, ob die Gelder existieren. Laut Wirecard geht es um etwa ein Viertel der Bilanzsumme.
Sowohl die Finanzaufsicht Bafin als auch die Münchner Staatsanwaltschaft kündigten an, den Fall prüfen zu wollen.
Freitag, Tag der Entscheidung
Die Verschiebung hat weitere Folgen: Sollte der Konzern bis diesen Freitag keinen testierten Abschluss vorlegen, könnten Banken ihm bestehende Kredite in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro kündigen, warnte das Unternehmen.
Die Nachrichten schockten die Frankfurter Börse: In der Spitze hatten die Wirecard-Papiere mehr als 71 Prozent ihres Börsenwerts verloren. Aus dem Handel gingen die Aktien dann noch mit einem Minus von 62 Prozent. Damit verbuchten Wirecard-Aktien einen der grössten prozentualen Tagesverluste, den je ein Dax-Unternehmen erlitten hat.
Wirecard-Vorstandschef Markus Braun und seine Kollegen gingen auf Tauchstation. Am Nachmittag sagte das Unternehmen auch die Präsentation der Bilanz für Medien und Analysten ab. Die Deutsche Börse in Frankfurt prüft Sanktionen wegen der nicht fristgerechten Lieferung der Jahresbilanz.
«Gigantischer Betrug»
Aber offenbar sieht Firmenchef Braun sich und das Unternehmen als Opfer: «Frühere erteilte Bestätigungen der Banken wurden vom Wirtschaftsprüfer nicht mehr anerkannt», so eine schriftliche Erklärung von CEO Braun. «Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht. Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar. Die Wirecard AG wird Anzeige gegen unbekannt erstatten.»
Später wiederholte ein Firmensprecher, Wirecard sei ein mögliches Opfer eines «gigantischen Betrugs». Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young gehen davon aus, dass «zu Täuschungszwecken» falsche Saldenbestätigungen für die Treuhandkonten ausgestellt wurden, und zwar von einem ungenannten Treuhänder oder zwei ebenfalls ungenannten asiatischen Banken.
Der Kollaps der Wirecard-Aktie drückte auch den deutschen Leitindex Dax – wo Wirecard im September 2018 die Commerzbank ersetzt hatte – ins Minus. Der Dax schloss am Donnerstag um knapp einen Prozentpunkt tiefer.
Wirecard sieht sich seit Jahren in Medienberichten Vorwürfen der Bilanzfälschung ausgesetzt, hatte diese jedoch bislang immer bestritten. Eine Sonderprüfung durch KPMG sollte die Vorwürfe aus dem Weg räumen. Der Bericht, im April vorgelegt, konnte jedoch einige Ungereimtheiten nicht entkräften. «Die Sonderprüfer zeichnen das Bild eines Konzerns, der unprofessionell agiert, in Teilen schlampig und allenfalls halbherzig an Transparenz sowie Aufklärung interessiert ist – ein Desaster», kommentierte das «Manager Magazin».
Auch ein Bafin-Skandal
Die Staatsanwaltschaft München ermittelt darüber hinaus gegen Firmenchef Markus Braun und die drei anderen Vorstände wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. In diesem Zusammenhang kam es Anfang Juni zu Durchsuchungen der Geschäftsräume.
Bemerkenswert ist dabei, dass sowohl die Aufsichtsbehörde Bafin als auch die Staatsanwaltschaft zuerst in die andere Richtung ermittelt hatten: Nachdem die «Financial Times» Anfang 2019 begonnen hatte, Unregelmässigkeiten bei Übernahmen in Asien und im Mittleren Osten aufzudecken, witterten die Aufseher Marktmanipulation auf dieser Seite – also «foul play» durch Shortseller.
Die Bafin erstattete Strafanzeige, ermittelt wurde gegen die Journalisten. Zudem verboten die Behörden zeitweise Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien (zum Wirecard-Dossier der «Financial Times»).
«Totalschaden für den Finanzplatz»
«Die Wirecard-Krise ist auch ein Totalschaden für den Finanzplatz Deutschland», kommentierte denn nun auch das «Handelsblatt» am Donnerstagabend.
Die Kernverdacht, der seit längerem im Raum stand: Das Payment-Unternehmen aus Aschheim bei München habe seine Umsätze und Gewinne künstlich aufgebläht – zum Beispiel, indem für magere Tochtergesellschaften in fernen Ländern weit überrissene Werte bilanziert wurden.
Vor wenigen Tagen bot ein kanadisches «Weisse-Hacker»-Kollektiv einen weiteren Aspekt in der Wirecard-Saga: Danach wurden in einer «Hack for hire»-Operation aus Indien heraus mehrere Kritiker – unter anderem ein «Reuters»-Journalist – überwacht und Phishing-Attacken ausgesetzt. Wirecard wies aber jeglichen Bezug zurück; man sei «zu keinem Zeitpunkt in direktem oder indirektem Kontakt zu einer Hackergruppe aus Indien gestanden.»
Ein britischer Analyst und Short-Seller, der bereits 2016 bei Wirecard auf Unregelmässigkeiten hingewiesen hatte, beschrieb dieser Tage auch, wie er von Detektiven beschattet worden war.
«Wir sind fassungslos»
Nach den Ereignissen dieses Donnerstags schwoll die Kritik an. Die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka forderte den Rücktritt von Wirecard-Chef Braun. «Wir sind fassungslos», sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs für gute Unternehmensführung bei der Deka. «Auch hier hat sich wieder gezeigt, dass den Ankündigungen von Wirecard keine Taten folgen. Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je.»
Die der Deutschen Bank gehörende Fondsgesellschaft DWS drohte mit einer Klage: «In diesem Zusammenhang analysieren wir die Faktenlage und prüfen die Einleitung rechtlicher Schritte», sagte ein Sprecher.
«Selbstverständlich fliesst der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein.»
Bafin
Auch die Union Investment, die bis vor kurzem einer der grössten Investoren des Zahlungsabwicklers war, denke über eine Klage nach, sagte ein Sprecher der Fondsgesellschaft am Abend zu «Reuters»: «Die Berichterstattung zu Wirecard hat die Union Investment zum Anlass genommen, auch in diesem Fall eine mögliche Beeinträchtigung von Anlegerinteressen und eine Einleitung rechtlicher Schritte zu prüfen.»
Die Anlegergemeinschaft SdK wiederum überlegt ebenso wie die Fondsgesellschaft DWS eine Schadenersatz-Sammelklage gegen Wirecard. Der SdK-Vorstand hat bereits eine Anwaltskanzlei eingeschaltet – die prüft auch, ob die Wirtschaftsprüfer von EY zivilrechtlich belangt werden könnten.
«Ein rabenschwarzer Tag»
«Das ist ein rabenschwarzer Tag», sagte Marc Tüngler, Geschäftsführer der Anlegergemeinschaft DSW: «Wir sind in der Situation, dass Wirecard selbst nicht mehr für Aufklärung und Vertrauen sorgen kann.»
Schliesslich kündigten auch Bafin und Münchner Staatsanwaltschaft am Donnerstag an, ihre Untersuchungen auszuweiten. «Selbstverständlich fliesst der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein», sagte eine Bafin-Sprecherin. Die Münchner Staatsanwaltschaft erklärte, man prüfe den Vorgang.
Grösster Verlierer war auch in finanzieller Hinsicht Braun: Er besitzt als grösster Anteilseigner sieben Prozent der gut 123 Millionen Wirecard-Aktien. Der Absturz seiner Papiere um über 60 Prozent bedeutete für ihn einen rechnerischen Wertverlust von über einer halben Milliarde Euro.
(Reuters | AWP | rap)
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