Sieben Stunden Schlaf, tägliches Fasten vom Dinner bis zum Lunch, ab und zu ein Gläschen Gin oder Rotwein und jede Menge «Disziplin». Diese und weitere professionelle und persönliche Gepflogenheiten gab «Unboss» Vas Narasimhan dieser Tage auf LinkedIn zum Besten.
«Unboss», also der Abbau von Hierarchien, ist das Mantra des seit gut anderthalb Jahren bei Novartis als Chef wirkenden Vas Narasimhan. Es ist der für ein Grossunternehmen ungewöhnliche Versuch, die Kultur der flachen Hierarchien, wie sie in den Startups gang und gäbe ist, bei einem Giganten wie Novartis zu applizieren, und ihn damit zum Tanzen zu bringen.
Gefragt sind Agilität, Transparenz und ein Umgang auf Augenhöhe, was einer Wende um 180 Grad gleichkommt. Novartis war zuvor genau das Gegenteil von nämlich eines der am stärksten hierarchisierten Unternehmen überhaupt.
Novartis – der neue Börsenliebling
Bis jetzt gibt Vas Narasimhan der Erfolg recht. Seit der aus Arzt und Absolvent der Harvard Kennedy School mit indischen Wurzeln auf dem Basler Campus das Ruder übernommen hat, kennt der Aktienkurs nur eine Richtung: nach oben.
Novartis hat Roche als Liebling der Analysten abgelöst, nicht wenige trauen der ewigen Nummer zwei inzwischen mehr zu als dem langjährigen Branchenprimus. Und Roche-Chef Severin Schwan sieht gegenüber dem Jungspund vom anderen Rheinufer trotz seiner für einen Konzernchef auch noch jugendlichen 53 Lenze unvermittelt etwas verstaubt aus.
Heftiger Vorwurf: Datenmanipulation
Doch nun steht die Kultur des Unbossing, wie die Kehrtwende in Anlehnung an das Buch des dänischen Unternehmer Lars Kolind genannt wird, vor der ersten grossen Bewährungsprobe. Die gefürchtete amerikanische Zulassungsbehörde FDA wirft Novartis vor, ihr eine Datenmanipulation im Zusammenhang mit der Gentherapie Zolgensma verschwiegen zu haben (siehe Box).
Die mehr als 2 Millionen Dollar teure Gentherapie gegen spinale Muskelatrophie ist das Paradestück von Narasimhans Fokussierung auf innovative Therapien. Spinale Muskelatrophie ist eine verheerende Erbkrankheit, die in ihrer schwerwiegendsten Ausprägung ohne Behandlung zum Tod der betroffenen Babys innerhalb der ersten beiden Lebensjahre führt.
Auf dem Spiel steht einiges: Hinter Zolgensma steht die Übernahme der amerikanischen Avexis, mit der sich der Konzernchef Zolgensma im April des vergangenen Jahres ins Haus holte. Es gilt, 8,7 Milliarden Dollar wieder einzuspielen – eine beachtliche Wette.
Hinter der lockeren Plauderei steht ein klare Ansage
Hier die lockere Plauderei auf LinkedIn, dort die brenzlige Situation in den USA, bei der er hart auf hart geht. Doch das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn hinter der Sociel-Media-liken Preisgabe von Essens- und Schlafgewohnheiten durch den CEO stehe sehr wohl eine Ansage, sagt Matthias Mölleney, Leiter des Center for Human Resources Management & Leadership an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich.
Und die geht so: «Das ist unser Führungsstil – und ich lebe diesen Stil vor». Umkehrschluss: «Wer Führungskraft sein will, muss sich anpassen oder hat bei Novartis nichts mehr verloren.»
Am Schluss geht es nur um eines: "Disziplin"
Lockere Form, aber eine klare Botschaft: Als Lizenz zur Leichtigkeit sollten der mit einem Bild von Vas Narasimhan und seinen beiden Jungen in Freizeitmontur illustrierte Exkurs über «Mindset» und «Movement» deshalb nicht interpretiert werden. Schliesslich steht hier nicht nur zu lesen, dass der jüngste SMI-Konzernchef bei schwarzer Schokolade, schwarzem Kaffee und einem guten Glas Rotwein schwach wird, sondern auch, dass sich am Ende alles um eines dreht: «Disziplin».
Wie ein Athlet habe er sich mental und physisch vorzubereiten, «damit ich Bestleistungen erbringen kann», so Narasimhan.
Dazu gehört, dass sich der Konzernchef auch die Erholung gönnt, die er braucht. "«ch versuche sieben Stunden pro Nacht zu schlafen und ich mache Power Naps von 20 Minuten, wenn ich einen Jetlag habe». Nix mehr mit der Idealisierung des Wenigschlafens, auch hier grenzt sich Narasimhan von der Generation der Väter ab. Ganz der Arzt schreibt er: «Immer wieder zeigen Studien, dass Schlafen einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und unsere Psyche hat».
E-Mails am Wochenende? Nur wenn nötig
«Unbossing ist eine Gratwanderug», sagt Jon Christoph Berndt, Management-Trainer aus München und Chef der Beratungsfirma Brandmazing. Einerseits nehme sich der Novartis-Chef mit dem Post selber zurück und begebe sich auf Augenhöhe mit den Angestellten, andrerseits stelle er sich damit auch zur Schau und stärke seine persönliche Marke.
In der Tat: Der Post ist vielschichtig. Ganz fürsorglich gibt sich der Chef, wenn er zwischen Freitagabend um 10 Uhr und Montagmorgen keine E-Mails verschickt, es sei denn, es sei absolut dringend. Denn: Er sei sich bewusst, dass eine E-Mail von ihm 100 bis zu 500 Folge-Mails in der Organisation auslösen können.
Gleichzeitig ist die E-Mail-Doktrin auch eine Absage an die alte Novartis-Kultur, die von den Mitarbeitern Rund-um-die-Uhr-Präsenz verlangte. Sich ausklinken, das war verpönt bei Novartis. Narasimhans Vor-Vorgänger im Fahrersitz von Novartis, Daniel Vasella, war berühmt und berüchtigt für seine Mail-Orgien am späten Sonntagnachmittag – mit der Folge, dass für Hunderte von Internen und Externen das Wochenende mit schöner Regelmässigkeit bereits am Sonntag und nicht erst am Montagmorgen zu Ende ging.
Hinter der lockeren Plauderei steht ein klare Ansage
Kommunikationsberater Aloys Hirzel sagt: «Das kommt alles sehr authentisch und ungefiltert daher und das kommt immer gut an.» Vas Narasimhan zeige sich nicht nur als CEO, sondern auch als Mensch. «Ich bin überzeugt, dass das zukunftsweisend ist.»
Ähnlich sieht es Bernhard Bauhofer: «Ich lese das als Anleitung, nicht als Anordnung. Ich kaufe ihm das ab, auch eingebettet in die ganze Unboss-Botschaft», sagt der Reputationsexperte vom Schwyzer Unternehmen Sparring Partners. Inbegriffen eine unterschwellige Botschaft an alle Angestellten: «Wer dazu nicht Ja sagen kann, muss sich fragen, ob er noch im richtigen Unternehmen arbeitet.»
Kritischer sieht es der Münchner Management-Trainer Jon Christoph Berndt: «Unbossing ist eine Gratwanderung. Einerseits nimmt sich der Novartis-Chef selber zurück und begibt sich auf Augenhöhe mit den Angestellten.» Anderseits aber, so Berndt, «geht er mit dem LinkedIn--Post nach vorne, stellt sich zur Schau und will so seine persönliche Marke stärken».
Kuscheln in Basel, kämpfen in den USA
Mit seinem Post hat Narasimhan eine wahre Welle an Sympathie ausgelöst. Mehr als 500 Kommentare, fast alle positiv, wenn nicht euphorisch bis jubilierend. «Well said Vas», heisst es da. Oder: «great read», «inspring», «wonderful», «fantastic example».
Einer bezeichnet Narasimhan gar als «Guru».
Andere Konzernchefs mühen sich damit ab, ein paar Likes zu bekommen, der Novartis-Chef sammelt mehr als 12'000 Likes ein. Nur wenige meckern wie ‹Modell von oben› nicht», schreibt er. «Aber super PR».
Der Konzernchef als Lichtgestalt – ist das nicht heikel? Klar, die Gefahr bestehe, dass man zu einem Messias emporstilisiert werde, sagt der Kommunikationsberater Aloys Hirzel. «Die Gefahr ist, dass Erwartungen geschürt werden, die dann nicht erfüllt werden können», sagte der Grande der Kommunikationsberater-Community. Wichtig sei, dass der Konzernchef nicht in die Diskussion einschalte und das tue er ja auch nicht.
Der "Unboss" ist gefordert
Doch was bedeutet die Affäre um die Datenmanipulation bei Zolgensma nun für das noch zarte Pflänzchen des «Unbossing» bei Novartis. Die Geschichte «könnte in der Tat zur Bewährungsprobe» werden, sagt Ex-Swissair-Personalchef Mölleney: «Wenn die neue Kultur der Transparenz und Offenheit schon greifen würde, dann wäre das wohl so nie passiert.»
Noch ein Schritt weiter geht Jon Christoph Berndt aus München. «Eine solche Situation verlangt nach einer klaren Ansage», die Angestellten und die Aktionäre erwarteten das. «Jetzt muss sich der Unboss nach vorne stellen und eine Boss-Ansage machen.»
So wie es aussieht, ist das bereits geschehen. Die Wissenschafter, welche die Daten manipuliert haben, sind ihren Job los. Man sei daran, sie zu entlassen, sagte Vas Narasiman vor Investoren.
Doch damit ist die Geschichte noch nicht ausgestanden. Der «Unboss» dürfte in den kommenden Monaten gefordert sein wie noch nie.
Kalte Dusche für Novartis: Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA droht dem Basler Pharmakonzern im Zusammenhang mit einem Fall von Datenmanipulation bei der Zulassung von Zolgensma mit zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen. Zolgensma ist eine Gentherapie gegen spinale Muskelatrophie, eine verheerende Erbkrankheit, die in ihrer schlimmsten Ausprägung zum Tod der betroffenen Babys innerhalb der ersten beiden Lebensjahre führt. Die Therapie kostet mehr als zwei Millionen Dollar.
Hier, was bis jetzt bekannt ist:
1. Worum geht es?
Die Datenmanipulation betrifft Versuche mit Mäusen in einem frühen Stadium der Entwicklung der Gentherapie Zolgensma. Die entsprechenden Verfahren wurden bereits ab Juni 2018 nicht mehr weiter verfolgt, wie Konzernchef Vas Narasimhan vor Investoren sagte.
2. Wie erfuhr Novartis von der Manipulation?
Das Unternehmen wurde Mitte März diesen Jahres von einem Wissenschafter über die Manipulationen informiert. Man sei dem Wissenschaftler sehr dankbar, sagte Narasimhan.
3. Wie passierte, als die Manipulation bekannt geworden war?
Es kam zu einer internen Untersuchung, die in zwei Stufen durchgeführt wurde, wie Narasimhan sagte. In einer ersten Phase zwischen Mitte März und Anfangs Mai habe man zusammen mit einem externen Berater zu eruieren versucht, ob sich die Vorwürfe erhärten liessen. Es habe sich um seine sehr komplexe Untersuchung gehandelt, sagte Narasimhan.
Als sich die «Diskrepanzen» dann anfangs Mai bestätigten, wurde eine zweite Untersuchung lanciert. Dies, um zu sehen, ob die Dokumente zur Zulassung von Zolgensma aufdatiert werden mussten, wie es an dem Call hiess. Wie Rob Kowalski, Head of Regulatory Affairs bei Novartis, sagte, handelte es sich bei dem Vorgehen um ein «Standardverfahren». So mache Novartis das immer in solchen Fällen, "wir orientieren die FDA, wenn wir verstehen, welche Informationen wir haben". Narasimhan sagte, er selbst sei ab dem Moment involviert gewesen, als die Bestätigung vorgelegen habe, dass es sich um Manipulationen gehandelt habe. "Wir haben versucht, die Dinge richtig zu machen, wir haben keine Kompromisse gemacht", so der Konzernchef.
4. Was ist zum Vorwurf zu sagen, Novartis habe die Information der Behörden "verzögert"?
«Wir haben nichts verzögert», sagte Vas Narsimhan vor Investoren. Klar ist: Zolgensma wurde am 24. Mai von der FDA zugelassen, die Information über die Datenmanipulation erfolgte hingegen erst am 28. Juni. Novartis sagt, es habe sich nicht an den Terminen für die Zulassung orientiert, sondern sei den Verfahren gefolgt, die für solche Fälle etabliert seien. Dafür spricht, dass die japanischen und die europäischen Zulassungsbehörden am ersten und zweiten Juli informiert wurden, also vor der Zulassung. Wenn die Untersuchungsergebnisse vor dem Zulassungstermin in den USA vorgelegen hätten, "dann hätten wir sie vorher offengelegt", sagte Narasimhan.
5. Was waren die Motive der Wissenschafter?
Das ist die Preisfrage. Wenn es darum ging, das Bild ihrer Arbeit zu verschönern und sich damit einen Vorteil zu verschaffen, dann war die Manipulation sinnlos. Schliesslich wurden die Verfahren nicht mehr weiterverfolgt. Er wollte nicht über die Motive der Wissenschaftler spekulieren, aber sie hätten sich wohl ein bestimmtes Ergebnis erhofft, sagte Narasimhan. Ihren Job jedenfalls sind die Wissenschafter los. Man sei daran, die Wissenschafter zu entlassen.
6. Was bedeutet die Affäre für den Rollout von Zolgensma?
Die FDA hat in ihrer Stellungnahme deutlich gemacht, dass die Zulassung von Zolgensma nicht in Frage gestellt ist. Sicherheit und Wirksamkeit der Therapie seien nicht gefährdet. Die Affäre könnte aber Auswirkungen in Europa haben. Novartis habe von den europäischen Behörden "eine grosse Anzahl von Fragen" bekommen, sagte Rob Kowalski; deren Beantwortung werde Zeit erfordern, weshalb es womöglich nicht zu einer beschleunigten Zulassung kommen werde. Trotzdem bleibe man "on track" für eine Zulassung im vierten Quartal, wie geplant. Zu Zolgensma sind bei Novartis 100 Programme in der Pipeline, die Therapie soll für zehn verschiedene Krankheitsfelder zugelassen werden.
7. Was sagt die Geschichte aus über die Kultur bei Novartis?
Datenmanipulation ist ein schwerer Vorwurf, auch wenn es "nur" um Verfahren geht, die im Zuge der Entwicklung nicht mehr weiter verfolgt werden. Wissenschaftliche Redlichkeit muss an erster Stelle stehen, sie ist die Voraussetzung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Industrie und den Behörden und Basis der Vertrags der Industrie mit der Gesellschaft.
Die Manipulationen datieren offenbar von vor der Übernahme von Avexis durch Novartis, insofern geht es primär um Avexis. "Nach unserem besten Wissen" seien die Manipulation vor der Übernahme passiert, sagte Konzernchef Vas Narasimhan. Die 8,7 Milliarden teure Übernahme wurde im Mai 2018 abgeschlossen. Nach der Übernahme wurde fast das ganze Management-Team von Avexis ausgewechselt und rund 1000 Leute wurden neu eingestellt. Entscheidend sei, dass Novartis Wissenschafter habe, welche die wissenschaftliche Wahrheit immer über die Ergebnisse stellten, sagte der Konzernchef.