Auf der Homepage tut sich nichts mehr. Auch ein Anruf beim Unternehmen bringt keine Erhellung; in gebrochenem Deutsch meint eine hörbar genervte Telefonistin, man erteile keine Auskünfte, schon gar nicht an die Presse. Nach weiteren Fragen ist die Leitung plötzlich tot – zuerst auf Russisch, dann auf Englisch werden Verbindungsprobleme vorgeschützt.
Bleibt nur ein Augenschein vor Ort. Doch die Büros im ersten Stock an der Bahnhofstrasse 7 in Zug, Hauptsitz der Firma mit dem zungenbrecherischen Namen RosUkrEnergo, sind verriegelt.
Weshalb der offensichtliche Infarkt des einst blühenden Händlers? Lars Haussmann, seit zehn Jahren Verwaltungsratspräsident von RUE, wie das Unternehmen firmenintern aus naheliegenden Gründen genannt wird, druckste minutenlang herum und rang sich dann zu einem «Ich kann und will keinen Kommentar zu den Geschäften abgeben» durch. Das 2004 gegründete Joint Venture wird zu 50 Prozent vom russischen Energiekonzern Gazprom kontrolliert. Am Konzernsitz in Moskau verweist man den Anfrager an die deutsche Dependance: Die in Berlin ansässige Gazprom Germania vertreibt Erdgas aus Russland und Zentralasien in Westeuropa. Die Antwort des dortigen Firmensprechers verblüfft: «Ich kenne diese Firma nicht.»
Dabei war RUE einst eine Cash Cow, wie sie im Buche steht. Die Firma wickelte den gesamten Gashandel zwischen Russland und der Ukraine ab. Mit einem Volumen von schätzungsweise 55 bis 60 Milliarden Kubikmetern Gas jährlich erzielte der Händler zu den besten Zeiten einen Umsatz von weit über 10 Milliarden Dollar sowie einen Gewinn von mehr als 700 Millionen.
Ukraine-Connection
Die urplötzliche Gedächtnistrübung bei Gazprom wurde wohl durch den Joint-Venture-Partner hervorgerufen. Die andere Hälfte der RUE-Aktien befinden sich im Besitz der Centragas Holding in Wien. Diese zählt zum Machtbereich des ukrainischen Oligarchen Dmytro Firtash, der sich in Österreichs Hauptstadt wohnlich eingerichtet hat. Seine Laufbahn als Unternehmer begann Anfang der neunziger Jahre mit dem Handel von Gebrauchtwagen und Konserven, später stieg er ins Erdgasgeschäft ein. Heute reichen die Aktivitäten seiner Dachgesellschaft Group DF von Erdgas und Düngemitteln über Chemie bis zu Banken und Medien. Auf der Lohnliste stehen 100 000 Namen.
Über den 48-jährigen Vertrauten des gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch kursieren mysteriöse Geschichten. Wohl mehr als nur ein Gerücht ist seine Nähe zum ukrainischen Paten Semjon Mogilewitsch. Mitte März jedenfalls wurde Firtash beim Verlassen der Wiener Centragas-Büros auf der Strasse verhaftet, und zwar aufgrund eines internationalen Haftbefehls. Das amerikanische FBI wirft Firtash Bestechung und Bildung einer kriminellen Organisation vor. Die Kaution wurde auf rekordhohe 125 Millionen Euro festgelegt. Für den Multimilliardär kein Problem – er zahlte und geht in Freiheit wieder seinen Geschäften nach.
Drehscheibe Schweiz
Überhaupt entdeckt Gazprom zunehmend die Schweiz als Firmenstandort. Über die letzten Jahre sind hierzulande gegen ein Dutzend Unternehmen gegründet worden, die meisten im Energiebereich. Dazu kommen wohl nochmals so viele Gesellschaften, deren Herkunft gut verschleiert ist und die man nicht auf Gazprom zurückführen kann. Die Schweiz entwickelt sich zunehmend zur Drehscheibe der Gazprom-Aktivitäten in Europa. Inzwischen wurden mehrere Milliarden Franken an Aktienkapital und Betriebsmitteln in unser Land geleitet.
Die bekannteste Firma ist die aus Zug operierende Nord Stream. Das Unternehmen, mit einem Aktienkapital von 1315 Millionen Franken ausgestattet, baute für 7,4 Milliarden Euro eine Erdgas-Pipeline, die von Russland durch die Ostsee bis nach Deutschland reicht. Gazprom hat mit 51 Prozent des Aktienkapitals das Sagen, in den Rest teilen sich vier internationale Energieunternehmen. Im Oktober 2012 wurde ein zweiter Pipeline-Strang in Betrieb genommen. Seither ist Nord Stream eine reine Betreibergesellschaft. Arbeiteten einst bis zu 180 Leute in Zug, wird seit geraumer Zeit der Mitarbeiterbestand «wie geplant und schrittweise heruntergefahren. Ende Jahr haben wir die Sollgrösse von 55 Leuten erreicht», erläutert Communications Director Ulrich Lissek. Und er schiebt ungefragt nach: «Alle unsere Umsätze und Gewinne fallen in Zug an, hier bezahlen wir auch Steuern.»
Pipelines aus Zug
Das Herz der beiden jeweils 1224 Kilometer langen Pipeline-Stränge schlägt an der Industriestrasse 18, mitten in Zug. Dort werden das eingespeiste Volumen, der Druck und die Temperatur des Gases gemessen, 24 Stunden und sieben Tage lang. Bei der Überwachung helfen unzählige Monitore. Möglich ist auch: «Nord Stream kann von Zug aus innert einer Stunde das ganze europäische Gasleitungssystem oder Teile davon blockieren», behauptet Heinz Gorsolke, CEO des Wasser-, Erdgas- und Energieverbunds Zürcher Oberland. «Das ist aber rein spekulativ. Dieses Szenario wird bestimmt nie eintreffen.» Schliesslich bestünden langfristige Lieferverträge. Gas sei «für Russland ein wichtiger Devisenbringer, und Europa ist auf russisches Gas angewiesen».
Vom kräftigen Personalabbau bei Nord Stream nicht betroffen ist Gerhard Schröder. Nachdem der Alt-Kanzler 2005 die Wahl verloren hatte, wurde er geschäftstüchtig. Noch im Amt unterzeichnete er mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin die Absichtserklärung zum Bau der Pipeline. Der Russe liess sich nicht lumpen und bot 2006 seinem Freund Schröder, der in diesen Tagen 70 wird, den Job als Verwaltungsratspräsident bei Nord Stream an. Für jährlich vier bis fünf VR-Sitzungen, meistens am Flughafen Zürich, kassiert der Deutsche eine «Aufwandsentschädigung» von 250 000 Euro. Nicht schlecht für die Aufsicht über ein Unternehmen mit bald einmal 55 Köpfen.
Die Schweiz wird für Gazprom immer wichtiger
In Zug ist eine weitere Gazprom-Pipeline-Firma domiziliert, die South Stream Serbia. Deren Kapital ist mit 47,7 Millionen Franken weitaus bescheidener, denn diese Firma ist nicht aktiv. South Stream ist eine Erdgasleitung, die von Südrussland über Bulgarien nach Italien reichen soll. Vor wenigen Wochen wurde mit dem Bau begonnen. Eine vorderhand reine Briefkastenfirma ist Shtokman Development in Zug. Ein Briefkasten, der proppenvoll ist: Das Aktienkapital stellt sich auf 233 Millionen Franken, notabene voll einbezahlt. Etwas gar viel für eine operativ inaktive Firma.
Auch ausserhalb von Zug nutzt Gazprom die Schweiz zunehmend als Drehscheibe für ihre Aktivitäten in Europa. Mitten in Zürich hat sich Gazprom Schweiz niedergelassen. Man ist um Diskretion bemüht. Auf zwei Stockwerken sind 28 Angestellte damit beschäftigt, Erdgas aus zentralasiatischen Gazprom-Quellen an Abnehmer in Europa und Asien zu verkaufen. Wie im Rohstoffhandel üblich, ist der Umsatz mit 9,3 Milliarden Franken sehr hoch, der Gewinn dagegen mit 55 Millionen bescheiden.
Ins Auge sticht die Entwicklung in jüngster Vergangenheit. Die Verkaufserlöse haben sich in zwei Jahren fast verfünffacht. Diese Umsatzsteigerung beruht «auf einer strategischen Neuausrichtung der Gazprom Schweiz im Jahr 2011», heisst es von Gazprom Germania; Gazprom Schweiz darf Presseanfragen nicht beantworten. Solche «Neuausrichtungen» sind im Gazprom-Grossreich gang und gäbe. Umsätze und Gewinne werden dorthin verschoben, wo es aus steuertechnischen oder politischen Gründen gerade opportun ist. Die zunehmende Wichtigkeit der Schweiz als Gazprom-Standort wird durch ein konzerneigenes Geldhaus unterstrichen. Die Gazprombank Schweiz in Zürich beschäftigte Ende 2012 über 60 Mitarbeiter. In der Kasse klimperten 1,1 Milliarden Franken an flüssigen Mitteln.
An der kurzen Leine
Die Schweizer Satelliten werden von Gazprom in Moskau an der kurzen Leine gehalten. Das Mutterhaus schreibt klar vor, wie viel man an Gewinntransfer erwartet. Auch gegen aussen fahren die Gazprom-Kader eine harte politische Linie. Der Konzern ist für Wladimir Putin ein Machtinstrument, wie man es sich wirkungsvoller kaum vorstellen kann. Das Firmenimperium, wo nichts ohne Putins Segen geschieht, hat schon oft gedroht, renitenten Ländern den Gashahn zuzudrehen. Und wo es brenzlig wird, kommt eine firmeneigene Kleinarmee zum Einsatz – auch im Ausland. In Osteuropa geht das Bonmot um: Früher schickten die Russen Panzer, heute Gazprom.
Mit Gazprom hält der Staatspräsident auch die eigenen Leute bei der Stange. Wer von der Nomenklatura Putin die Treue hält, für den ist der Konzern ein unerschöpfliches Füllhorn; Freunde und Mitstreiter belohnt er mit Spitzenämtern. Zu diesen Topmanagern, in Russland «Gazoviki» genannt, zählen CEO Alexei Miller sowie VR-Präsident Wiktor Subkow – und Subkows Vorgänger Dmitri Medwedew, der spätere Präsident Russlands.
Auch in den Führungsgremien der Schweizer Gazprom-Töchter sitzen zahlreiche Russen. Dennoch setzte Putin einen gebürtigen Ostdeutschen als Statthalter in der Schweiz ein: Matthias Warnig hat bei Nord Stream, Gazprom Schweiz und anderen Firmen das Sagen. Der 58-Jährige blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück; von 1974 bis 1990 war er für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit tätig. Nach der Wende trat der Stasi-Offizier in die Dienste der Dresdner Bank, vor allem in St. Petersburg und Moskau. Ob Warnig Wladimir Putin aus seiner Stasi-Zeit kennt, ist nicht klar. Sicher ist, dass die beiden einstigen Spione – Putin stand in Diensten des KGB – sehr gute Freunde sind. Putin hat Warnig nicht nur in lukrative Ämter gehebelt, er hat ihn auch mit dem russischen «Orden der Ehre» dekoriert.
Unbegründete Sorge vor Sanktionen
Mit der Krim-Krise ist auch Gazprom unter Beschuss geraten. Zeitweise musste die Zentrale in Moskau befürchten, dass die EU oder die USA Konzernaktivitäten im Westen lahmlegen oder Bankkonten einfrieren. Der Schweizer Bundesrat dagegen hat klar signalisiert, man werde keine eigenen Sanktionen gegen Russland ergreifen, was dort mit Wohlwollen quittiert wurde. So bleibt zu erwarten, dass die Drehscheibe Schweiz für Gazprom an Attraktivität noch gewinnt.
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