Als Loretta Mester, Präsidentin der Federal Reserve Bank von Cleveland, am 13. November die Fragen eines lokalen Publikums beantwortete, liess die Frage nicht lange auf sich warten, von der die Investmentwelt derzeit besessen ist. «Was bedeutet ’graduell’?» fragte Craig Evers, Ökonom der Hedgefondsfirma Brevan Howard Inc.

Die Antwort, wenn sie letztlich kommt, wird den Kurs an den Finanzmärkten der Welt bestimmen. Sofern es bis dahin keine bösen Überraschungen gibt, wird im Dezember mit einer Leitzinserhöhung der Federal Reserve gerechnet - es ist der womöglich am ungeduldigsten erwartete Schritt in der 100jährigen Geschichte der Zentralbank. Da die Investoren nun zu wissen meinen, wann der Zeitpunkt der ersten Straffung ist, rückt das Tempo der folgenden Schritte in den Vordergrund. Und den Anhaltspunkt, den die Fed dazu immer wieder liefert, ist das englische Wort «gradual», das in den deutschen Medien als «graduell» oder auch als «schrittweise» beziehungsweise «allmählich» übersetzt wird.  

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Doch was bedeutet dieses Wort - abgeleitet vom lateinischen «gradus» für Schritt oder Stufe - in der Sprache der Fed-Notenbanker? Janet Yellen und ihre Kollegen sagen dazu nichts wirklich handfestes, und die Wissenschaft der Semantik kann nur begrenzt Erkenntnisse bieten.

Ziemlich vage

«Es bedeutet nur etwas, wenn es in einer konkreten Situation benutzt wird, und selbst dann kann es ziemlich vage sein», Molly Diesing, Direktorin am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Cornell.

Kurzum, es kann so ziemlich alles bedeuten, was Yellen und ihre Kollegen möchten - und das ist vermutlich kein Zufall.

«Aus der Sicht der Fed ist das ein idealer Ausdruck», sagt Lee Ferridge, Leiter Makro-Strategie bei der Anlagemanagement-Sparte von State Street Corp. in Boston. «Es besagt, dass sie nicht bei jeder Sitzung eine Straffung vornehmen, legt sie aber nicht auf ein bestimmtes Tempo fest.»

Die Fed benutzt das Wort «graduell» bereits seit zwei Jahren, doch erst nun wird dem mehr Beachtung geschenkt. In der vierteljährlichen Zusammenfassung ihres Wirtschaftsausblicks erklärte die US-Notenbank wiederholt, die Währungshüter würden mit «relativ graduellen» oder «ziemlich graduellen» Zinserhöhungen rechnen.

Yellen verwendet seit mindestens März Versionen des Begriffs bei ihren öffentlichen Auftritten. Sie ist auch sehr spezifisch gewesen, was mit «graduell» nicht gemeint ist.

Mechanischer Ansatz

Es gebe «keinen Plan, irgendeinen mechanischen Ansatz bei der Anhebung der Federal Funds Rate zu verfolgen», sagte die Fed-Chefin nach der FOMC-Sitzung im Juni vor Journalisten.

Unter Alan Greenspan hatte die Fed ihre geldpolitischen Zügel 17 Sitzungen in Folge - von Juni 2004 bis Juni 2006 - um jeweils 0,25 Prozentpunkte gestrafft. Die Erhöhungen wurden damals generell als «measured» - auf Deutsch: «massvoll» - bezeichnet. Doch das sorgte für ein zu hohen Grad an Berechenbarkeit, was eine zu hohe Risikoübernahme der Investoren ermutigte, lautet die mittlerweile weit verbreitete Ansicht. Es dürfte ein Grund dafür sein, warum die Fed dieses Wort nun generell meidet.

In jüngerer Zeit beschäftigten sich die Anleger mit der Frage, wie lange ein «beträchtlicher Zeitraum» andauert. Für solch eine Periode hatte Fed ab September 2012 zugesagt, ihren Leitzins unverändert zu lassen, damit die Wirtschaft heilen kann.

Nicht ungeduldig

Im Dezember 2014 änderte die Fed dann die Wortwahl und versicherte, «geduldig» zu sein. Just als die Fed-Beobachter zu begreifen begannen, was damit gemeint sein könnte, wurde das Wort im März 2015 wieder fallengelassen. Yellens Anmerkung zu dem Schritt: «Nur weil wir das Wort ’geduldig’ aus der Erklärung genommen haben, bedeutet das nicht, dass wir ungeduldig sein werden.»

Was den Gradualismus angeht, könnte sich das Ganze daran anlehnen, wie die Fed den Wirtschaftsausblick betrachtet. In ihren vierteljährlichen Zusammenfassungen beschreibt die US- Notenbank, wie sich die Konjunktur ihrer Einschätzung nach in den kommenden Jahren entwickeln wird. Seit April 2012 ist der bevorzugte Begriff hierfür - man ahnt es schon - «graduell».

Eindruck der aktuellen Lage

Das ist im Grunde auch das, was Mester ihrer Zuhörerschaft sagte. «Wenn wir ’graduell’ sagen, versuchen wir auszudrücken, was unser Eindruck der aktuellen Lage und des Ausblicks ist», erklärte sie. «Es wird davon abhängen, wie sich die Wirtschaft entwickelt.»

Mester und Richmond-Fed-Präsident Jeffrey Lacker sagten, Investoren sollten für eine Interpretation von «graduell» auf das so genannte «Dot Plot» in den Quartalsberichten zurückgreifen, in der die Währungshüter ihre Projektionen für die Fed Funds Rate in einer Grafik mit Punkten darstellen.

Der Fed-Leitzins liegt seit Dezember 2008 bis dato in einer Spanne zwischen Null und 0,25 Prozent. Die Median-Prognose vom September implizierte vier Viertelpunkterhöhungen im kommenden Jahr, was den Zins in Richtung 1,5 Prozent bewegen würde, und weitere fünf Schritte im Jahr 2017.

Individuelle Vorhersagen

Roberto Perli, ehemaliger Fed-Ökonom und nun bei Cornerstone Macro LLC tätig, betrachtet das Punktediagramm skeptisch. Der Median oder Mittelwert aus 17 individuellen Projektionen gibt seiner Einschätzung nach keine guten Anhaltspunkte dazu, wie Yellen in einem gespaltenen Ausschuss einen Konsens schmieden wird. 

«Die Punkte sagen nichts über einen Kompromiss aus, sie sind wahrscheinlich nicht der beste Indikator für die tatsächlich kommenden Geschehnisse», erklärt Perli. Das Straffungstempo wird seiner Meinung nach tatsächlich viel gemächlicher ausfallen, als die Fed-Grafik nahelegt: er sagt nach der erste Straffung drei Schritte pro Jahr voraus.

Auch Richard Clarida, globaler Strategieberater von Pacific Investment Management Co., ist die Punktegrafik nicht grün, allerdings aus einem anderen Grund. Sie ist seiner Aussage nach brauchbar, wenn die den Zinserwartungen zugrundeliegenden Konjunkturprognosen für Arbeitsmarkt, Inflation und Wachstum sich als korrekt erweisen. Doch wenn nicht - und in der Vergangenheit lagen sie stets daneben - müssten die Investoren weiter raten.

Reaktion kann nicht vorausgesehen werden

«Was kennen den Zinskurs nicht, wenn sich die Wirtschaft nicht gemäss den SEPs entwickelt», konstatiert Clarida. Da die Fed-Währungshüter ihre Vorgehensweise im Entscheidungsprozess nicht gut beschrieben haben, könne ihre Reaktion auf alternative Szenarien nicht vorausgesehen werden, fügt er an.

Keine Furcht, sagte James Bullard, Präsident der Fed von St. Louis, am 12. November vor Journalisten. Der Nebel werde sich lichten und die Angst der Investoren abebben, sobald die Fed die zweite Zinserhöhung in ihrem Straffungszyklus vornimmt.

Bis dahin - wann immer das auch sein wird -, «werden wir keine Glaubhaftigkeit bei dem Thema haben», so Bullard, «wie graduell denn ’graduell’ ist.»

(bloomberg/ccr)