Der Mann war eindeutig das, was man einen Spätberufenen nennt. Im Alter von 25 Jahren kam er aus Frankfurt am Main nach Vevey an den Genfersee. Es waren Heinrich Nestles Lehr- und Wanderjahre, und hier am Genfersee schien es ihm zu gefallen. 1814 war er als elftes von vierzehn Kindern eines wohlhabenden Glasermeisters zur Welt gekommen und hatte in seiner Heimatstadt eine Lehre als Apotheker abgeschlossen. Am Lac Léman änderte er seinen Vornamen Heinrich in Henri und schrieb den Nachnamen fortan mit einem é am Schluss.
Nestlé trat eine Stelle als Gehilfe in der Apotheke von Marc Nicollier an und lernte rasch Französisch. Vier Jahre blieb er dort, dann kaufte er mit geliehenem Geld ein kleines Fabrikgebäude im Städtchen Vevey und machte sich selbstständig. Aus der kleinen Knochenmühle lieferte er das Knochenmehl für die Düngung der örtlichen Spitalreben, stellte Kohle, Öl, Essig, Schnaps, Tafelsenf und erste Limonaden her.
Reich wurde er nicht, weil seine Diversifikationsstrategie bei keinem Produkt eine einigermassen rationelle Produktion zuliess. Erst im Alter von 46 Jahren heiratete Nestlé die Frankfurter Arzttochter Clementine Ehemant. Und sie sollte bei Nestlés grossem Wurf, dem Milchpulver für Kleinkinder, eine entscheidende Rolle spielen.
Die Ehe der beiden war glücklich, blieb aber kinderlos, und je länger dieser Zustand anhielt, desto grösser wurde Clementines Kinderliebe. In seinem Bekanntenkreis sah das Paar, wie erschreckend hoch damals die Kindersterblichkeit war. Nestlés Frau drängte den Erfinder, etwas dagegen zu tun. In der Wissenschaft war bekannt, woraus eine gesunde Babynahrung zu bestehen hätte, nur hatte sie noch niemand maschinell gefertigt. Milch, Zucker und Weizenmehl mussten es sein.
Endlich ass der Kleine wieder
Es brauchte Jahre, bis Nestlé das Rezept fand, das seinen hohen Qualitätsansprüchen genügte und sich auf den vorhandenen Maschinen herstellen liess. Schliesslich nahm er Zucker, fügte Alpenmilch bei und kondensierte diese Mischung. Daneben backte er aus Weizenmehl ein zwiebackähnliches Brot, vermahlte es zu Pulver und vermengte es mit dem Milchkonzentrat. Hinzu fügte er Kaliumbikarbonat, siebte das Pulver nochmals und erreichte so, dass es bei einer Temperatur von rund 50 Grad im Vakuum eindickte und seine Nährkraft beibehielt. Das Produkt überzeugte, und einige Gelehrte begannen sich zu interessieren. Doch wie sollte Nestlé das Pulver nun im grösseren Stil in die Familien bringen?
Der Zufall wollte es, dass ein Freund von einem zwei Wochen alten Säugling berichtete, der keine ihm verabreichte Nahrung vertrug und zunehmend schwächer wurde. Nestlé zögerte nicht, dem kleinen Balg aus seinem Mehl einen Brei zuzubereiten, und wiederholte das die nächsten Tage. Und siehe da: Plötzlich ass der Kleine und gedieh prächtig. Der Erfolg des neuen Nahrungsmittels verbreitete sich in Windeseile in den Nachbardörfern und bald verliessen täglich zwei Dutzend der luftdicht verschlossenen Metalldosen die Fabrik aus Vevey.
Auf der Dose brachte er von allem Anfang an das Bild eines Vogelnestes an, das er seinem Familienwappen entnahm. Aus dem einen Vogel machte er drei eine Mutter mit den Jungen und kreierte die heutige Marke Nestlé. Dazu setzte er auf jede Dose seine Unterschrift als persönliches Qualitätsversprechen. Er stellte sämtliche übrigen Aktivitäten ein und konzentrierte sich voll und ganz auf sein Kindermehl. Via unzählige Briefwechsel mit Ärzten und Apothekern auf der ganzen Welt zog er sein Marketing auf, um seine Erfindung auf dem Globus bekannt zu machen und über deren erstaunliche Wirkung zu berichten.
Das Kindermehl wurde Nestlés grosser Triumph. Schon bald konnte er die Produktion in seinem 30-Mann-Betrieb auf Hochtouren laufen lassen. 1868 stellte er 8000 Büchsen à 500 g her, 1874 waren es bereits 670000, und im Folgejahr überschritt er die Millionengrenze. Das Vogelnest war zum globalen Brand avanciert, Heinrich Nestle aus Frankfurt ein gemachter Mann. Im Nachhinein hiess es, der Mann habe wohl tausenden von Kindern das Leben gerettet.
Doch es gab bald auch kritische Stimmen, die behaupteten, das Unternehmen halte die Mütter vom Stillen ab, eine Kritik, die bis heute nicht ganz verhallt ist.
Verkauf des Lebenswerks
1875, gut 60-jährig, trennte sich Henri Nestlé von seinem Unternehmen. In einem Dreierkollegium um den damaligen Stadtpräsidenten von Vevey, Jules Monnerat, sah er die richtigen Persönlichkeiten, um sein Lebenswerk fortzuführen. Der Kaufpreis betrug 1 Mio Fr., wovon Nestlé die Hälfte als Guthaben stehen liess und so dem Unternehmen eng verbunden blieb. Mit eingeschlossen war die Marke Nestlé sowie seine Unterschrift. Er verpflichtete sich sogar, auf den Namen zu verzichten. Der Pionier nahms gelassen und unterschrieb fortan mit Nestlé-Ehemant, dem Namen seiner Frau. Den Lebensabend verbrachten die beiden im Stile Landadliger in einer herrschaftlichen Villa oberhalb Montreux und spendeten regelmässig Geld für wohltätige Zwecke.
Zu Henri Nestlé hat der Verein für Wirtschaftshistorische Studien Zürich in der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» 1955 Band 2 herausgegeben. Weitere Informationen: www.pioniere.ch.Bereits erschienen: Schoggipionier Rudolf Sprüngli (Nr. 28), Brown Boveri (Nr. 29), und Jakob Schmidheiny (Nr. 30). Lesen Sie nächste Woche: Die Gebrüder Johann Jakob und Salomon Sulzer.
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«Er wusste um die Kraft der Marke»
Peter Brabeck-Letmathe, Chairman und CEO von Nestlé, über Pionier Henri Nestlé.
Was ist von Henri Nestlé geblieben?
Peter Brabeck: Henri Nestlé benutzte wissenschaftliche Erkenntnisse, um soziale Bedürfnisse abzudecken. Er tat dies mit unternehmerischer Risikobereitschaft und im Wissen um die Kraft von Marken. Dieser Grundhaltung leben wir noch heute nach.
Was bedeutet er heute noch für Sie?
Brabeck: Ich habe bei Henri Nestlé immer die Kombination zwischen dem Tüftler und dem Marketing-Mann bewundert. Er war es, der ein Kindernährmittel auf den Markt brachte, das wirklich tausenden von Kleinkindern das Leben rettete. Darüber hinaus hinterliess er in seinem Briefwechsel eine Reihe von scharfsinnigen Bemerkungen zur Bedeutung der Marke, die zeitlos gültig sind. Er ist für mich ein Vorbild für unternehmerisches Denken und Handeln geblieben.
Sehen Sie Parallelen zwischen dem Pionier und Ihnen?
Brabeck: Henri Nestlé war Alleinbesitzer der Firma. Ich habe den Besitzern des Unternehmens, über 250 000 Aktionären, Rechenschaft abzulegen. Uns verbindet das Vertrauen in den Erfolg und die Nachhaltigkeit der Nestlé.