Freitag, 31. Oktober 2014. Ein Kurier des amerikanischen Logistikers FedEx fährt beim Friedrich Miescher Institute an der Basler Maulbeerstrasse vor. Sein Auftrag: eine Sendung nach China.
Der Absender: ein Postdoktorand, der sich die Sporen abverdient an dem zur Novartis-Forschung gehörenden Basler Institut.
Der Empfänger: ein vom chinesischen Staat mitfinanziertes Biotechunternehmen namens Renopharma mit Sitz im ostchinesischen Nanjing.
«Gerade angefangen, noch nicht fertig. Es dauert ein paar Tage, die Konzentration muss noch optimiert werden», hatte Tian Wang (Name von der Redaktion geändert) noch ein paar Tage vorher an seine Schwester geschrieben, die in den USA lebt. Doch nun war das Päckli mit den Antikörpern, die er zuvor in den Laborräumlichkeiten des Instituts getestet hatte, bereit für den Versand in die Volksrepublik.
«Du sollst die Files NICHT jemandem anderen zeigen»
Diese und viele weitere Details lassen sich in den Unterlagen der Justizbehörden des Eastern District of Pennsylvenia nachlesen. Die auf Delikte in der Biotechindustrie spezialisierte Strafverfolgung beschuldigt den heute knapp 50-jährigen Wang in einem Fall von wirtschaftlichem Nachrichtendienst. Er soll Teil einer Conspiracy sein, die dem britischen Pharmakonzern GlaxoSmithKline GSK einen Schaden von 550 Millionen Dollar verursacht haben soll. Nun soll der Basler Doktor an die Amerikaner ausgeliefert werden.
Ein Blick in die Gerichtsunterlagen zeigt: Tian Wang dürfte sehr wohl gewusst haben, dass er unerlaubt handelte.
Bereits am 9. November 2010, also fast vier Jahre vor dem Versand des Fed-Ex-Päcklis in seine chinesische Heimat, schrieb er per E-Mail: «Beiliegend drei Files, (...), die dir helfen könnten. Die ersten beiden sind hochgradig vertraulich, du solltest sie NICHT jemandem anderen zeigen».
«Hier gibt es nun einige chinesische Studenten», warnt er
Weiter heisst es im Mail von Wang an seine Schwester, die damals in der GSK-Forschung in Upper Merion in Pennsylvenia tätig war und als Schlüsselfigur im GSK-Spionagefall gilt: «Wir müssen einen Vorwand oder einen Grund finden, mit ihnen (den Dokumenten, A.d.V) weiter zu arbeiten oder öffentlich über sie zu sprechen, OHNE das Institut oder Labor ZU NENNEN».
Und dann steht da auch noch: «Du tätest besser daran, diese Nachricht an deine persönliche E-Mail-Adresse weiter zu leiten und sie zu löschen».
Vom gleichen Tag datiert zudem eine Nachricht mit der Aufforderung an seine Schwester, ihn nicht bei der Arbeit anzurufen: «Hier gibt es nun einige chinesische Studenten». Sie könne ihn zu Hause - Wang wohnt in einem Mehrfamilienhaus in einer Basler Vorortsgemeinde - anrufen.
«Du tätest besser daran, diese Nachricht an deine persönliche E-Mail-Adresse weiterzuleiten und zu löschen», schreibt der mutmassliche Spion an seine Schwester.
Doch die Angst, entdeckt zu werden, hinderte Postdoc Wang nicht daran, weiterzumachen. Am 7. Dezember 2010 liess er seiner Schwester eine E-Mail mit Informationen über die Rolle und die Mechanismen von MerTK zukommen. MerTK ist ein Rezeptor, der bei eigenen Krebsarten übermässig ausgeprägt ist und mit dem die Wissenschaft die Hoffnung verbindet, dass er ein Ansatzpunkt für die Behandlung von Krebs sein könnte.
Am 27. Dezember doppelte Wang per E-Mail mit weiteren Informationen zu MerTK nach. Mit Datum vom 5. März 2011 versorgte der FMI-Wissenschaftler seine Schwester mit «wissenschaftlichen Informationen über Krebsmedikamente».
Goldgrube Immunonkologie
Gut zwei Jahre später, am 11. April 2013, schrieb er seiner Schwester: «Heute habe ich noch eindrücklichere Resultate bekommen»; es sei ihm gelungen, Hautkrebszellen zum Absterben zu bringen. Darauf folgt die dringliche Aufforderung: «Bitte vertraulich behandeln!»
Ein gutes Jahr später, nämlich am 10. September 2014, teilte er seiner Schwester mit: Der PDL2, also der entsprechende Inhibitor für den Rezeptor MerTK, habe bereits «eine kristalline Struktur»; er frage sich, ob die Interaktion zwischen dem beiden Molekülen auf dem Computer simuliert werden könne. Beigelegt: Die molekularen Sequenzen des Rezeptors MerTK und des Inhibitors PDL2.
«Heute habe ich noch eindrücklichere Resultate bekommen … Bitte vertraulich behandeln!»
Wenig später begann er mit den Vorbereitung der Labor-Tests. Dies, obwohl er sich bei seiner Anstellung Ende 2007 gegenüber dem FMI verpflichet hatte, «keine Aufträge von Dritten anzunehmen oder ein eigenes Geschäft z zu betreiben», wie es in den Unterlagen heisst. Am 26. September 2014 forderte Tian Wang, der damals kurz vor dem Ende seiner Tätigkeit beim FMI stand, seine Schwester auf, ihm je 5 Milliliter PDL1- und PDL2-Antikörper zu schicken.
Es geht um das heisseste Feld der Krebsforschung
Dazu muss man wissen: Bei PDL1 und PDL2 handelt es sich um sogenannte Checkpointinhibitoren. Sie hebeln die Abwehrreaktionen des Krebses gegen Therapien wie Chemo oder Bestrahlung aus. PDL1 und PDL2 waren in den vergangenen Jahren das heisseste Feld in der Krebsforschung. Unternehmen wie die amerikanische Merck, BMS und Roche machen Milliardenumsätze damit. Wang operierte demnach auf dem dannzumal heissesten Feld der Krebsforschung, der Immunonkologie.
Das Friedrich Miescher Institut (FMI) und Novartis beantworteten keine Fragen zu Tian Wang und seiner mutmasslichen Spionagetätigkeit. Das FMI schreibt lediglich, man habe mit der Staatsanwaltschaft des Eastern District of Pennsylvenia im Rahmen der Ermittlungen zusammengearbeitet, «konkret haben wir Fragen zu Tian Wang beantwortet». Weitere Auskünfte seien nicht möglich, da es sich um eine laufende Untersuchung handle.
Wann erfuhren FMI und Novartis vom Verdacht?
Damit bleibt insbesondere die Frage offen, wann das Friedrich Miescher Institut FMI, beziehungsweise die Novartis Instituts of Biomedical Research NIBR – die konzernweite Forschungsorganisation von Novartis, zu der das FMI gehört – von den mutmasslichen Straftaten ihres Mitarbeiter erfuhren. Und warum der Konzern von einer strafrechtlichen Verfolgung absah. Beziehungsweise wer die Entscheidung dazu traf.
Das Basler Friedrich Miescher Institut zählt zu den ersten Adressen für molekularbiologische Grundlagenforschung. Das bei Novartis und bei der Universität Basel angegliederte Institut wurde von den beiden Novartis-Vorgängerfirmen Sandoz und Ciba-Geigy gegründet und wird heute von Silvia Arber mitgeleitet, Tochter des Nobelpreisträgers Werner Arber.
Es wird zu mehr als 50 Prozent von Novartis finanziert, erhält daneben aber auch öffentliche Mittel, zum Beispiel vom Nationalfonds. Die Patentrechte liegen bei Novartis. Das Institut beschäftigt rund 100 Postdoktoranden wie den nun in Auslieferungshaft sitzenden Tian Wang.
Namensgeber des FMI ist der Basler Mediziner Friedrich Miescher, der im 19. Jahrhundert die Nukleinsäure oder DNA entdeckte und damit die Grundlage für die Molekularbiologie legte, wie wir sie heute kennen.
Immerhin handelt es sich beim FMI um ein Institut, das einen Konzern angegliedert ist, für den der Schutz von Geschäftsgeheimnissen und intellektuellem Eigentum vital ist. Und das zudem zu einen staatlichen Universität angegliedert ist und auch mit Steuergeldern finanziert wird.
Novartis: Kein Interesse an einer Strafverfolgung
Aufschluss dazu geben die Gerichtsunterlagen zum GSK-Fall. Demnach war man bei Novartis spätestens ab Herbst 2017 informiert über die Machenschaften des Herrn Dr. Wang. Den Unterlagen zufolgte setzte sich Staatsanwaltschaft von Pennsylvania im Oktober 2017 mit Robert Haney in Verbindung, Partner bei der New Yorker Anwaltskanzlei Covington und Anwalt von Novartis; dies, «um Novartis’ Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung» an Tian Wang auszuloten, wie es in den Unterlagen heisst.
Doch der Pharmakonzern scheint nicht daran interessiert, den chinesischen Wissenschaftler zur Rechenschaft zu ziehen. Das zeigt ein Treffen zwischen dem FBI, einem Vertreter der Staatsanwaltschaft von Pennsylvenia und Scott Brown, dem General Counsel der Novartis Institutes for BioMedical Reserach NIBR vom Januar 2018.
Novartis-Anwalt: Verlust ist «vernachlässigbar»
Dabei brachte der Novartis-Verteter «zusätzliche Informationen» bei, welche die Untersuchung gegen Tian Wang betrafen. Gleichzeitig zeigen die Unterlagen das Bild eines Rechtsvertreters, der sich bemühte, die Bedeutung der Vorgänge zu relativieren. So bestätigte Scott Brown zwar, dass Wang nicht befugt war, Informationen an seine Schwester zu schicken und die Laboreinrichtungen des Friedrich Miescher Institutes zu brauchen, um für Renopharma zu arbeiten.
Aber: «Wie auch immer, Scott Brown deutete an, dass der Verlust für Novartis vernachlässigbar sei», heisst es in den Unterlagen.
Mehr noch: Der NIBR-Anwalt stelle zwar fest, dass Li Wang mit seinem Verhalten gegen die Regeln des Unternehmens verstossen habe, er betrachte die Weitergabe der Informationen aber nicht als «Diebstahl», heisst es da.
Gleichzeitig geht aus den Unterlagen auch hervor, dass Novartis darauf verzichtete, die Forschungsergebsse von Tian Wang patentieren zu lassen.
Konfrontiert mit den Informationen schreibt Novartis: "Wir verfügen über solide Richtlinien und Verfahren, um uns vor dem Diebstahl unseres geistigen Eigentums zu schützen. In diesem Fall, wie auch in anderen Fällen, in denen vertrauliche Informationen missbäuchlich verwendet werden, arbeiten wir eng mit den Behörden zusammen und entscheiden von Fall zu Fall, ob wir rechtlich vorgehen." Den spezifischen Fall kommentiere man aufgrund der laufenden Untersuchung nicht.
Soweit die Sicht von Novartis. Die Strafverfolger in den USA aber sehen in ihm einen Mitverschwörer im Fall GSK. Sollte er ausgeliefert und in den USA verurteilt werden, so droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren.