Woran liegt es, dass sich die Versagensmeldungen aus den Chefetagen gerade dieses Jahr zu häufen scheinen?
Mario von Cranach: Wir müssen zwischen Management-Fehlern und moralischem Versagen unterscheiden. Wir erleben gegenwärtig nach Jahren des Booms eine für die Wirtschaft schwierige Zeit, fast eine Rezession. In dieser Situation zeigen sich Management-Fehler natürlich deutlicher. Vielfach waren es Fehleinschätzungen in der Zeit der Hochkonjunktur, deren Folgen sich jetzt auswirken. Viele Unternehmen wollten z.B. auf den Kapitalmärkten aktiv mitspielen, waren aber dafür nicht gerüstet. Andere sahen richtig, dass grössere Märkte an sich auch grössere Unternehmungen begünstigen, verkannten aber die Schwierigkeiten von Akquisitionen und Fusionen. Häufig ging im Sog des Booms auch die Vorsicht verloren.
Und das moralische Versagen?
Cranach:Moralisches Versagen ist selten. Es handelt sich um Einzelfälle, die von den Medien entsprechend ihres Nachrichtenwertes in den Vordergrund gerückt wurden. Fast immer war das Motiv persönliche Bereicherung; die Akteure fühlten sich wahrscheinlich gerechtfertigt durch die tonangebende liberalistische Ideologie, die den individuellen Egoismus als einzige Triebfeder wirtschaftlichen Handelns zu legitimieren scheint.
Diese Art des Wirtschaftens ist ja Ausfluss des so genannten «protestantischen Wirtschaftsethos». Und praktischerweise bringt der «ökonomische Rationalismus», wie ihn Max Weber nennt, mit sich, dass eine spezielle Unternehmensethik überflüssig wird, da die Maximierung des Shareholder Value die Ansprüche aller Bedarfsgruppen abdeckt. Hat diese Ansicht Bestand?
Cranach: Die «protestantische Ethik» sah im wirtschaftlichen Erfolg den sichtbaren Segen Gottes, in der Erfolglosigkeit dementsprechend Gottes Strafe; sie stellte aber im Übrigen hohe moralische Ansprüche an die Lebensführung.
Auch der ursprüngliche «klassische» Wirtschaftsliberalismus des Adam Smith, die eigentliche Quelle des heutigen «Marktfundamentalismus», setzte den moralisch handelnden Unternehmer voraus. In der «sozialen Marktwirtschaft» der 50er bis 70er Jahre erwartete man vom Unternehmen, neben dem Gewinn auch andere soziale Güter z.B. soziale Sicherheit, Lebenssinn und eine gute soziale Gemeinschaft zu produzieren.
Und heute? Sind diese gesellschaftlichen Ansprüche an eine Unternehmung obsolet geworden?
Cranach: Nein. Diese Forderungen schienen zwar eine Zeit lang kaum noch aktuell, werden aber jetzt wieder laut: Das Pendel scheint nun nach der anderen Seite zu schwingen. Ich möchte aber betonen: Falsch sind nicht die liberalen Ideen an sich, nicht die Betonung von Freiheit und Selbstverantwortung und der Gedanke der Marktwirtschaft falsch ist ihre Übertreibung.
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass viele Unternehmen, insbesondere KMU, ihre soziale Verantwortung nie vergessen haben. Es waren insbesondere die auf Kurzfristigkeit gerichteten Forderungen des Kapitalmarktes und die Konkurrenz des globalen Marktes, welche sozial verantwortliches Handeln zuweilen als Wettbewerbshindernis erscheinen liessen. Nun scheint die Erkenntnis zu wachsen, dass ein sozial verantwortliches Unternehmen an sich besser und auf die Dauer auch erfolgreicher ist.
Was führt Sie zu dieser Einschätzung?
Cranach:Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Unternehmen, die sich bemühen, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen, im Vergleich zu anderen, die das nicht tun, mittel- und langfristig auch wirtschaftlich besser abschneiden; zumindest sind sie nicht schlechter. Das Vertrauen und die gegenseitige Loyalität zwischen dem Unternehmen und seinen Stakeholdern schlägt sich schliesslich auch in der Bilanz nieder; es wächst aber nur in langfristigen Beziehungen.
Diese Erkenntnis bestätigt sich auch in den Erfahrungen vieler Unternehmen, die auf gute soziale Beziehungen und soziale Verantwortung gesetzt haben; manches Grossunternehmen hat das in den letzten Jahren durch Misserfolge wieder lernen müssen.
Bis wann wird diese Haltung zum Allgemeingut werden?
Cranach: Ich glaube, dass immer mehr Menschen die Gefahren einer ausschliesslich profitorientierten Wirtschaft erkennen. Damit sich diese Denkweise durchsetzt, muss aber noch viel getan werden. Vergessen wir aber nicht, dass die Entwicklungen in der Wirtschaft immer auch von anderen Einflüssen, politischen Entwicklungen und historischen Ereignissen abhängen, die sich nicht voraussehen lassen.
Was würde ein Ethik-Kodex für Manager bringen? Die Gefahr besteht doch, dass er ungefähr so wertvoll wäre wie ein Unternehmensleitbild: Schön graviert, hängt es in den Gängen, und kein Mensch beachtet es.
Cranach: Ethik-Kodices können ein erster Schritt sein, reichen aber allein nicht aus. Erforderlich sind Verfahren, welche die Prozesse der betrieblichen Praxis verändern. Dazu sind detaillierte Erhebungen, Zielvorgaben und Verfahrensregeln erforderlich, wie sie in Zertifizierungsverfahren und Management-Systemen enthalten sind: Sie können das alltägliche Handeln beeinflussen. Unser Netzwerk arbeitet an der Entwicklung eines auf die Schweizer Verhältnisse zugeschnittenen Soziallabels.
Was wird darin stehen, und bis wann soll es fertig sein?
Cranach: Eigentlich arbeitet das NSW an zwei Verfahren: Eine Anleitung dazu, einen «Sozialbericht» zu schreiben. Das ist ein niederschwelliger Einstieg in die gezielte und begleitete Berichterstattung zum Thema soziale Verantwortung. Dieses Verfahren ist praktisch fertig und erprobt, die Arbeit damit beginnt im nächsten Frühjahr.
Das zweite Verfahren ist ein «Soziallabel Schweiz»; es bezieht sich inhaltlich auf die Gebiete: Beziehungen zu Mitarbeitenden, Kunden, Lieferanten, Shareholdern und der Gesellschaft als Ganzes. Dieses Verfahren soll im Frühjahr 2004 fertig sein. Beide Verfahren sind kostengünstig, vergleichsweise wenig Zeit raubend, besonders auf die Schweiz ausgerichtet und auch für kleine, sicher aber für mittelgrosse Unternehmen geeignet.
Könnte die viel geforderte «neue Generation von Verantwortungsträgern» die Entwicklung beschleunigen?
Cranach: Die Entwicklung und Weiterentwicklung von Wertvorstellungen und ethischen Zielen findet meist in kleinen, minoritären Gruppen statt, muss aber dann von einer Mehrheit in der Gesellschaft getragen werden. Wir alle sind also dafür zuständig, und unsere soziale Verantwortung misst sich an unseren Handlungsmöglichkeiten. Die ältere Generation ist davon weder entbunden noch ist sie dazu unfähig. Die Jüngeren aber folgen uns sowieso nach und werden von uns übernehmen, was sie gut finden um es dann wieder nach ihren Bedürfnissen zu verändern. Also sollten wir ihnen möglichst viel Gutes vorleben und hinterlassen.
Steckbrief
Name: Mario von Cranach
geboren: 1931 in Berlin
Zivilstand: Verheiratet
Wohnort: Bern
Tätigkeit: 1971-1996 Prof. für Psychologie an der Uni Bern
Funktion: Präsident NSW
Kommentar
Corporate Governance muss gelebt werden
Was in den vergangenen zwölf Monaten in den Managementetagen geschehen ist, ist einmalig. Einmalig trist, aber auch einmalig entlarvend. Publicitysüchtige Egomanen, die vor allem durch ihre unkontrollierte Überheblichkeit aufgefallen sind, treten nach Monaten des Sich-an-die-Macht-Klammerns plötzlich reumütig zurück oder lehnen sich andächtig in ihren Chefsesseln zurück und entdecken über Nacht, dass es auch noch andere Werte gibt als ihre persönliche Gewinnmaximierung. Zum Beispiel: Corporate Governance. Die wiederentdeckte Unternehmensüberwachung soll in null Komma nichts die Scherben kitten, die die Omnipotenzfantasie von ein paar Managerhirnen zerschlagen hat.
Selbstverständlich habe ich nichts daran auszusetzen, dass die Transparenz in den Unternehmen verbessert werden soll und die Aufsichtsgremien künftig gestärkt ans Werk gehen. Im Gegenteil: Das ist durchaus lobenswert. Etwas auszusetzen habe ich aber daran, dass zahlreiche Entscheidungsträger dieser Wirtschaft einmal mehr auf dem besten Weg sind, sich hinter einem Anglizismus zu verstecken. Bienenfleissig beschäftigen sich Verbände, Parteien und Wirtschaftsführer mit dem Ausarbeiten von Regeln und Verhaltenscodices zur Corporate Governance. Zum selben Thema werden seitenweise Strategiepapiere gefüllt, hochrangige Gremien gebildet und wissenschaftliche Studien durchgeführt. Es wird lavriert, diskutiert und initiiert, doch geholfen ist der Wirtschaft dadurch herzlich wenig.
Imageschäden werden nur wiederhergestellt,wenn den vielen Worten endlich wieder Taten folgen. Zum Beispiel, indem jede und jeder ab sofort wieder Verantwortung übernimmt, anstatt als blinder Nacheiferer orientierungslos durch die Wirtschaftswelt zu irren und sich mit Floskeln im Stile von: «Alle haben es so gemacht..., niemand konnte wissen, dass...» über Wasser zu halten.
Denn Verantwortung beschränkt sich nicht auf die Budgetverwaltung oder die Anzahl der zu führenden Mitarbeiter. Verantwortung hat rein gar nichts mit Hierarchie oder Funktion zu tun. Verantwortung ist eine Haltung, ein Charakterzug. Wer Verantwortung übernimmt, ist authentisch und steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Er ist glaubwürdig, denn er braucht sich nicht hinter Wortgebilden zu verstecken.
Verantwortung übernehmen heisst, sein Gegenüber ernst zu nehmen und sich auf dieses einzulassen. Wer Verantwortung übernimmt, gibt Antworten auf Fragen und schafft dadurch eine Kultur des Vertrauens. Und vor allem schafft er sich mehr Freunde als Feinde. Wer als Führungskraft Verantwortung übernimmt, steht nicht als einsamer Kapitän am Steuer seines Unternehmens, sondern hat eine Mannschaft im Rücken, die auch in schwierigen Zeiten bereit ist, maximalen Einsatz zu leisten. Und das ist eine weitaus wertvollere Absicherung als ein goldener Fallschirm oder eine reich ausgestattete Beletage. Und zudem eine nachhaltigere.
Soziale Verantwortung
Netze knüpfen
Das «Netzwerk für sozial verantwortliche Wirtschaft» (NSW/RSE) ist eine Vereinigung von 200 Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen und hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung so auszurichten, dass alle Beteiligten dabei gewinnen. Es arbeitet an konkreten und anwendungsorientierten Instrumenten, die die Wirtschaftsakteure auf allen Ebenen im sozial verantwortlichen Handeln unterstützen sollen.