Wer auf der ABB-Website die Bilder der Konzernleitung herunterladen will, der stösst bereits beim Big Boss auf eine Überraschung. Statt Peter Vosers Porträt erscheint das perfekt ausgeleuchtete Bild von Ulrich Spiesshofer. Dieser trat Mitte April sehr abrupt als Konzernchef ab. Seither ist Voser im Doppelmandat unterwegs: als Präsident des Verwaltungsrats und als Konzernchef ad interim.
Der Bild-Fauxpas wird Voser kaum erschüttern. Dem gestandenen Industriemanager, Sohn eines Kraftwerkmonteurs aus dem Aargauischen, geht jeder Hang zur Selbstinszenierung ab. «Es geht nicht um mich, es geht um die Firma», gehört seit Jahrzehnten zu seinen Lieblingssprüchen.
Die Bescheidenheit, die ganz oben gefordert und gelebt wird, ist neu und kommt unten an. Voser sei glaubwürdig und geerdet, sagen mehrere Kaderleute. Eine neue Welt, rühmt ein ABB-Manager. Am Formel-E- Rennen in Bern hingen die ABB-Mitarbeitenden ihrem VR-Präsidenten und Konzernchef ad interim an den Lippen. Dieser scherzt, ist mit vielen per Du. In Jeans gekleidet holt er schon mal die Espressi.
Voser will mehr Unternehmertum
Voser zettelte eine Revolution an. Klar, ABB wird umgebaut, verkleinert, verschlankt, neu sortiert. Aber die Firma wird vor allem mit neuem Geist beseelt: Mehr Freiheit und Unternehmertum will er sehen, mehr Kundennähe, kürzere Entscheidungsprozesse, im Gegenzug weniger Bürokratie und Chefallüren. Was zählt, ist nur die Leistung.
Vosers Stil zeigt sich in der Führung: Während sein Vorgänger auf Mikromanagement setzte und durch alle Hierarchiestufen ins Getriebe griff und mit seiner Stimme die Gipswände zum Zittern brachte, führt Voser mit ruhiger Hand und langer Leine.
Ziele sind zwar vorgegeben, der Weg dorthin lässt aber Optionen offen. Gefordert sind zuvorderst die Chefs der vier Kerndivisionen, die nun weitgehend autonom agieren – vier Unternehmer in einem Unternehmen.
Den allermeisten Kaderleuten passt die Machtverschiebung vom Konzernchefpult an die Front. Endlich dürfe man wieder Risiken eingehen, «ohne grad einen Zusammenschiss zu befürchten», sagt einer, der schon lange dabei ist. Allerdings sind einige mit der wachsenden Verantwortung bisweilen überfordert. Ungleich bequemer war es für sie, auf die Direktiven aus der Zentrale zu warten.
Vosers Geist zeigt sich auch in der Kommunikation, die derzeit vom Overdrive in Normalbetrieb umgepolt wird. Sein Vorgänger inszenierte aufwendige Multimediashows und überhöhte jede noch so banale Firmennachricht zum Megaevent: ABB sei «ein bahnbrechender Technologieführer in der digitalen Industrie», dröhnte es aus dem Lautsprecher. Oder: ABB biete «ein einzigartiges Angebot an innovativen Lösungen», sei «einzigartig global aufgestellt», habe ein «einzigartiges Portfolio» – und sei, bitteschön, «ideal positioniert für langfristiges Wachstum».
Weil sich die Einzigartigkeit der Firma und ihres Chefs nie in den Geschäftszahlen und auch nicht im Aktienkurs widerspiegelten, geriet dieser zusehends unter Druck des Verwaltungsrats. Im Frühling war Spiesshofers Kredit endgültig verspielt. Die Einsicht hatte lange gedauert.
Interim-Konzernchef Voser pocht im Gegensatz zum begnadeten Bühnenstar Spiesshofer auf Nüchternheit. Statt vom einzigartigen Portfolio zu schwärmen, meint er trocken: «Wir sind nicht dort, wo wir gerne sein möchten.» Und meint: Ärmel nach oben krempeln. Als Zeichen, dass nun alle Kräfte gefragt sind, gab er sein prestigeträchtiges VR-Mandat beim Pharmariesen Roche auf.
Das neue Leadership-Konzept lebte Voser beim Formel-E-Rennen vor, deren Hauptsponsor ABB ist. Bei der Begrüssung der Gäste sass der Oberchef artig im Publikum und überliess die Bühne Robert Itschner, Chef ABB Schweiz. Voser will, heisst es, seine Präsenz in der Öffentlichkeit reduzieren. «Ich brauche das Scheinwerferlicht nicht», hat er kürzlich CNN Money Switzerland erklärt. Es sind neue Töne beim Industrieriesen.
Der Industrieriese wird zweifach umgebaut: Zum einen wird die Stromnetzsparte nach Japan verkauft. Zudem werden die Geschäftsfelder und Länderorganisationen in vier neue Divisionen verteilt.
Damit wird die komplexe Matrixorganisation abgelöst. Künftig werden die vier Divisionen eigenverantwortlich geführt. Der künftige Konzernchef überwacht die Divisionen und lenkt die Zentrumsfunktionen.
Voser baut auf den Finanzchef
Lieber trifft der 61-Jährige Mitarbeitende, Investoren, Kunden – oder lobbyiert bei Politikern. Letzte Woche traf er den chinesischen Premier Li Keqiang, zehn Tage zuvor Präsident Xi Jinping. China ist ein ABB-Kernmarkt: 20 000 Mitarbeitende sind bereits vor Ort, 14 Prozent der Belegschaft. Mit der Elektrifizierung sieht Voser weiteres Potenzial.
Mit dem neuen Setting wird Finanzchef Timo Ihamoutila aufgewertet. Der Finne ist ein alter Hase, der in seiner Heimat als Held der Zahlenkränze gilt, zumal er bei der Rettung des Staatsheiligtums Nokia eine Schlüsselrolle gespielt hatte. Damit teilt er mit Voser einen Ruf: Dieser wirkte vor 15 Jahren als Finanzchef bei der Sanierung der schlingernden ABB mit. Anschliessend kehrte er zum Weltkonzern Shell zurück, den er fünf Jahre lang führte.
Doch auch mit dem erprobten Führungsduo Voser/Ihamoutila wird ABB nicht so rasch abheben. Der Umbau ist komplex und nimmt sicher zwei Jahre in Anspruch. Zudem drückt die Flaute im Automobilsektor aufs Geschäft. Doch mit «Chrampfen», ist Voser überzeugt, wird auch dieser Turnaround gelingen.