Bern, Nordquartier, Schönburg, ein trister Betonbau aus den späten sechziger Jahren. Die Réceptionistin lässt sich vom eintreffenden Besuch nicht stören, minutenlang klappert sie weiter auf ihrer Tastatur. Zwei der drei übergrossen Bildschirme in der Eingangshalle bleiben schwarz – «Kein Signal» blinkt verschämt in der Monitorecke. Ein Mittfünfziger schlurft mit Birkenstocksandalen über den Marmorboden, ein paar Stechpalmen lassen deprimiert ihre Wedel hängen, ergraute Ledersessel warten auf bessere Zeiten. Willkommen bei der Schweizer Post des 21. Jahrhunderts.
Dass auf zwei von drei Bildschirmen stundenlang Mattscheibe herrscht, nennt Susanne Ruoff «Pech»; einem Birkenstockträger sei sie noch nie begegnet; überhaupt stimmten die Klischees nicht über jenen Konzern, der formell noch immer eine öffentlichrechtliche Anstalt ist. Sie muss es sagen: Seit sechs Monaten steht sie zuoberst im 60 000-Personen-Unternehmen und ist damit die mächtigste Frau der Schweizer Wirtschaft.
Zuvorkommende Chefin
Die Chefin ist nicht zu beneiden. Sie muss den Staatsbetrieb in eine AG überführen, ihn neu aufstellen, dynamisieren und ins digitale Zeitalter bringen. Wie sie die 164-jährige Traditionsmarke in die E-Welt navigieren will, weiss niemand. «Seit Jahren hört man über die Strategie nicht allzu viel», sagt Peter Sutterlüti, Präsident von KEP & Mail, dem Verband der privaten Kurier-, Express-, Paket- und Maildienstleister. «Es gibt viele offene Fragen», sagt auch Fritz Gurtner von der Gewerkschaft Syndicom. «Die Ausrichtung der Schweizer Post ist nebulös», meint der internationale Logistikexperte Horst Manner-Romberg. Ruoffs Schonzeit ist abgelaufen.
Die Post-Chefin ist zuvorkommend, serviert in ihrem Büro selber Mineralwasser, wägt jedes Wort ab. Selbst einen teuren PR-Berater hat sie sich zugelegt, der ihre Aussenwirkung spiegeln soll. Akribisch hat sie sich auf das Gespräch vorbereitet, zwei per Hand eng beschriebene A4-Seiten zeugen davon. Typisch für Ruoff: «Sie war immer gründlich und professionell vorbereitet, das ist eine ihrer Stärken», sagt Riet Cadonau, Konzernleiter von Kaba und einst ihr Chef bei IBM.
«Evolution statt Revolution», lautet das Credo, das sie in jeder Sitzung wiederholt. Auch im Strategie-Kick-off-Meeting fürs Topkader, das Ende Februar unter dem Titel «14/16» stattfand. Die besonnene Gangart kommt bei den Oberen gut an, bei VR-Präsident Peter Hasler und bei UVEK-Chefin Doris Leuthard, die sich mit der 55-jährigen Ruoff bestens versteht. Und es ist auffällig, dass auch von den Weggefährten niemand ein böses Wort über die gebürtige Zürcherin verliert: Susanne Ruoff, everybody’s Darling.
Prädestiniert als Post-Chefin
Doch für sie stehen grosse Herausforderungen an. Die Erträge sinken in der alten Post-Welt: Die Briefpost schrumpft seit Jahren, 2012 um zwei Prozent, die Margen bei Briefen wie Paketen schwinden. «In der näheren Zukunft erwarten wir sinkende Gewinne», sagt Ruoff. Wie aber kompensieren? Wie soll die Post in der digitalen Welt operieren, wo gibt es neue Wachstumsmärkte, wie lässt sich auf der E-Commerce-Welle surfen? Ruoffs grosse Herausforderung: «Die physische Post mit elektronischen Möglichkeiten ergänzen und intelligent verknüpfen – dies will ich angehen.» Mit digitalen Dienstleistungen schafft die Post zehn Prozent des Umsatzes, nicht mehr als schon 2007. Die Italiener oder Neuseeländer liegen gemäss «Global Postal Industry Report» bei 15 Prozent.
Ihre Karriere prädestiniert sie für die Verbindung von alter und neuer Post-Welt, eigentlich. Bei IBM begann die ausgebildete Primarlehrerin Ende der achtziger Jahre als Trainee, lernte Programmieren, verkaufte PCs und Software, leitete später eine Servicegruppe mit 20 Mitarbeitenden – im Jobsharing. Ein Novum in der Schweiz. «Es gab nur eine Führungsposition, also gab es auch nur eine Bewertung für beide. Sie mussten sich selbst organisieren», erinnert sich Peter Quadri, damals IBM-Chef. Das Experiment ging schief: «Ruoff war die stärkere der beiden Frauen – Kunden und Mitarbeiter haben sich nur auf sie konzentriert», sagt ein Beteiligter.
Bald arbeitete sie deshalb wieder in Vollzeit, erst im Verkauf, später als Leiterin der Servicesparte, die rund die Hälfte des Umsatzes von IBM Schweiz ausmachte, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung. «Eine steile Karriere», sagt Attila Castiglioni, einstiger Weggefährte und heute Verkaufs- und Marketingchef bei V-Zug, mit Beförderungen alle eineinhalb bis zwei Jahre. «Nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie den Job gut machte», sagt Quadri.
Integrativ
Wie viel sie dabei wirklich bewegte, ist schwer zu beurteilen, denn der Freiheitsgrad in einem börsenkotierten US-Konzern ist beschränkt. Ruoff sagt, es sei ihr gelungen, «vielen Kunden echten Mehrwert zu bieten, Innovationen zu fördern und Neugeschäfte zu generieren».
Der weitere Weg nach oben blieb ihr versperrt, sowohl innerhalb der europäischen Serviceorganisation als auch auf den Chefposten von IBM Schweiz, den damals ihre Kollegin Isabelle Welton besetzt hielt. 2009 wechselte sie als Chefin zur Schweizer Tochter des Telekomanbieters British Telecom (BT), der damals mit 250 Mitarbeitenden geschätzte 550 Millionen Umsatz machte. Unter ihrem Vorgänger hatte BT Switzerland grosse Kunden wie Nestlé, Credit Suisse oder Novartis gewonnen; ihre Aufgabe war es, diese Kunden trotz einer grossen Reorganisation des Stammhauses bei Laune zu halten.
Grosse Erfolge waren ihr nicht beschieden: «BT Switzerland hat unter ihr stark an Profil verloren und steht heute für nichts mehr», sagt ein Branchenexperte. «Ausser bei der Verwaltung internationaler Accounts ist BT hier kaum mehr aktiv.» Neue Dienste, innovative Produkte? Fehlanzeige. Auch von grösseren Neukunden ist aus den drei Jahren unter Ruoff nichts bekannt.
Umso überraschender kam für viele die Berufung auf den Top-Posten des gelben Riesen. Anfänglich begab sie sich auf eine «Tour de Poste», um einen ersten Überblick zu kriegen. Sie liess sich auf der Brieftour ablichten, verkündete immer wieder, wie motiviert und zuverlässig jeder Mitarbeitende am Werk sei. «Ich bin kein Machtmensch», sagt sie selber. Stattdessen holt sie die Leute ab, bindet sie ein, hört zu. «Sie fällt keine einsamen Entscheide», sagt Castiglioni. Integration, Respekt und Vertrauen sind ihr wichtig, sagt sie. Und: «Man muss in der Führung als Team gemeinsam zu einer Lösung kommen. Dann muss man die auch durchsetzen.» Das gelinge ihr meist, wie mehrere Weggefährten berichten, auf sehr subtile Weise.
Die Probleme der Post
Der partizipative Führungsstil sorgt intern für gute Stimmung. Bei Stellenantritt lud sie die Konzernleitung samt Partnerinnen zum Wochenende auf die Riederalp ein. Zwischenzeitlich organisierte sie zwei Kader-Teambildungsseminare mit externen Psychologen, in denen man sich tief in die Augen blickte. Selbst einen Frauenförderungskodex liess sie von jedem einzelnen Konzernleitungsmitglied unterschreiben. Ihr Vorgänger, Jürg Bucher, ging da resoluter zur Sache: Er signierte den Kodex gleich selber, im Namen der Kollegen. Neben ihm hatten die Konzernleitungsmitglieder wenig zu melden. Bucher, über 35 Jahre bei der Post, war der Top-down-Chef.
Nett. Die integrative, unprätentiöse und kommunikative Art von Ruoff ist neu im Logistikkonzern, der seit je von Machern wie Bucher dominiert wurde. Dass der Verwaltungsrat unter Peter Hasler Ruoff als «Perle» bezeichnete und zur operativen Chefin berief, erstaunt nicht. Nach den Erfahrungen mit VR-Präsident Claude Béglé, der die Erneuerung übers Knie brechen wollte und scheiterte, weil er sich in Rekordzeit im obersten Kader zahlreiche Feinde schuf, ist jetzt in der Schönburg, dem Hauptsitz, Dialog angesagt.
Aber «Management by being nice» reicht nicht, um den Konzern weiterzubringen. Der Aktivismus bei den soften Faktoren kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei den harten hapert. Klar, bis ein Externer den byzantinischen Post-Konzern versteht, dauert es zwei Jahre. Doch Ruoffs Führungsstil, die fehlende Vernetzung in Bern und die mangelnden Branchenkenntnisse liefern internen Gesprächsstoff. Es gebe keine Unité de doctrine in Grundsatzfragen, etwa der Grundversorgung der Post oder der Abgrenzung von PostFinance, heisst es. Ein langjähriger Post-Kenner: «Wenn man zehn Kaderleute zu zentralen Fragen befragt, erhält man zehn unterschiedliche Antworten.»
Das Spektrum an Meinungen ist breit: PostLogistics-Chef Dieter Bambauer – er war der interne Kandidat für den Chefposten – tritt forsch auf und möchte den Staatbetrieb am liebsten privatisieren, andere huldigen dem Service public und wandeln auf ausgetretenen Pfaden, die hochprofitablen PostFinance-Banker wiederum pochen auf Eigenständigkeit, andere favorisieren die Einheitspost unter dem gelben Dach.
Verschiebung der Macht
Seit ein paar Monaten mischt auch noch der Verwaltungsrat mit. Besonders umtriebig sind die Mitglieder des Ausschusses Organisation, Nomination & Remuneration, dem VR-Präsident Hasler angehört. Schleichend findet eine Verschiebung der Macht in Richtung Verwaltungsrat statt. Dieser ist mit der künftigen Rechtsform als AG zwar stärker gefordert, doch früher war dies undenkbar: Die Vorgänger von Ruoff, Ulrich Gygi und Jürg Bucher, zwei machtbewusste Alphatiere, liessen sich wenig bis gar nicht dreinfunken. Und sie pochten auf Einhaltung des Dienstwegs: Hatte der Verwaltungsrat ein Anliegen, war es an den Konzernchef zu adressieren. Direktzugriff aufs Management war nicht geduldet.
Selbst die Gewerkschaften sind über den Aktivismus erstaunt: Sie bevorzugen eine starke Konzernspitze, mit der man zügig Probleme lösen und verbindlich einen neuen Gesamtarbeitsvertrag aufgleisen kann. Im Herbst ist Verhandlungsbeginn, doch die Positionen der Post-Führung sind weiter nebulös, sagt Gurtner. Bald muss Ruoff Farbe bekennen. Auch im Operativen hat die Managerin einiges nachzuholen. Die Kundenfreundlichkeit stieg zwar in letzter Zeit, doch noch immer gibts Potenzial: Poststellen sind oft dann offen, wenn der Kunde an seinem Arbeitsplatz sitzt. Frühmorgens, abends oder am Samstagnachmittag, wenn Zeit fürs Post-Geschäft wäre, ist Sendeschluss.
Auch beim wachsenden E-Commerce, der das Päckligeschäft treibt, sind neue Lösungen gefragt. Die Valora hat es vorgemacht: Seit zwei Jahren kann der Kunde an 800 Kiosken Pakete aus dem Versandhandel retournieren, zum Preis von 3.90 Franken. Erst diese Offensive schreckte die Post auf. «Die Post reagiert, wenn der Wettbewerbsdruck zunimmt», sagt Patrick Kessler, Präsident des Verbands des Schweizerischen Versandhandels, dessen Mitglieder 2012 rund 29 Millionen Pakete spedierten.
Onlinemarkt mischt Paketmarkt auf
Kürzlich kündete die Post unter My Post 24 als Alternative zu den Valora-Kiosken eigene Paketstationen an, wo man Pakete rund um die Uhr abholen oder verschicken kann. Reichlich spät. «Nur noch in Albanien, Rumänien und der Schweiz gibt es noch keine solchen Stationen», sagt Versandhändler Kessler. Im Entrée des Post-Hauptsitzes sind zwei giftig gelbe Paketautomaten aufgestellt, angeschrieben mit «Salt» und «Pepper». Die Mitarbeitenden sollen mit der neuen Technologie vertraut gemacht werden. In ein paar Wochen wird entschieden, ob das polnische oder das österreichische Modell das Rennen macht.
Ein Zeitplan wie bei der Schneckenpost. Im Februar trompetete man: «Post führt Paketautomaten ein.» Dabei steckt man immer noch in der Evaluationsphase. Der erste Apparat wird erst im Sommer in Dienst gehen. Bis Ende 2014 – fast zwei Jahre nach Ankündigung – braucht die Post, um landesweit 40 Paketautomaten zu installieren. Nume nid gsprängt, sagt man in Bern.
Akuter Handlungsbedarf. Ausländische Postgesellschaften haben den 24-Stunden-Paketservice längst eingeführt, die Deutschen vor elf Jahren, die Österreicher vor sieben, die Dänen vor fünf. Auch das Interactive Delivery Management, mit dem Kunden Abholzeit und -ort ihrer Pakete via Handy steuern, bietet der Express- und Paketdienstleister DPD seit Monaten an. Bei der Post ist man noch meilenweit von einer Lancierung entfernt. Doch die private Konkurrenz spornt an. «Wir wollen Impulse setzen bei Themen wie E-Commerce», meint Ruoff. Passivität kann sie sich nicht leisten, wie das Beispiel Deutschland zeigt: Dort wird das Paketgeschäft auch dank E-Commerce bis 2020 um 80 Prozent wachsen, sagt Logistik-Experte Manner-Romberg.
Der Online-Handel mischt den Paketmarkt auf – neue Anbieter, neue Vertriebskanäle, neues Kundenverhalten. Wer online ordert, will höchstens 24 Stunden auf den Laptop oder die Jeans warten und foutiert sich um Post-Öffnungszeiten. Seit Monaten bastelt die Post deshalb an einem Geheimprojekt namens Yellow Cube. Ziel ist es, Versandhändler mit ihrer Ware in die Post-Logistikzentren zu integrieren und das Handling und die Abrechnung der Ware zu übernehmen. Gegen Ende Jahr solle Yellow Cube lanciert werden, heisst es. Das Potenzial ist gross: Der Online- und Versandhandel in der Schweiz wird auf fast sechs Milliarden Franken geschätzt.
Grosser Handlungsbedarf besteht auch beim Marketing. Zwar werden die Traditionsbotschaften wie Sicherheit, Zuverlässigkeit oder Flächendeckung wie ein Mantra heruntergebetet. Dabei gehen neue Services, die das Image des gelben Riesen modernisierten, leicht vergessen. Auch Ruoff hat dies erkannt: «Wir müssen die neuen Produkte besser verkaufen!», schrieb sie kürzlich in ihrer Kolumne konzernleiterin@post.ch in der Personalzeitung. Die Swiss Post Box etwa, der digitale Briefkasten für Privatkunden, wäre ein attraktives Angebot für mobile Urbanisten, welche die gescannte Briefpost per E-Mail nachgeschickt erhalten. Der Service, eine Innovation, ist wenig bekannt, das Echo ernüchternd: Der vor vier Jahren eingeführte digitale Briefkasten habe bis heute bloss 4000 Kunden, sagt ein Interner. Die exakten Zahlen werden wohl aus Scham unter Verschluss gehalten. «Einige tausend», sagt Ruoff nur.
Auch die «Time to market», das Lancierungstempo also, müsse erhöht werden. Doch ihre Einschränkung kommt sofort: «An die Post-Produkte werden besondere Erwartungen gestellt. Sie müssen absolut sicher sein und reibungslos funktionieren. Das grosse Vertrauen der Kunden darf nicht tangiert sein.»
Bonsoir Tristesse
Von der IT-Branche ist sie anderes gewohnt. Dort darf es selten länger dauern als ein Jahr von der Idee bis zur Lancierung; Updates und neue Versionen folgen im Stakkato. «Ruoff wird ab und zu erkennen müssen, dass Dinge bei der Post länger dauern als bei IBM», sagt Hans Ulrich Märki, Ex-Europa-Chef bei IBM und heute ABB-VR.
Dass die Frau mit der markanten roten Brille und den feinen Manieren nicht zum Berner Politklüngel gehört, ist für die Neuausrichtung des Konzerns Chance und Risiko zugleich. «Bislang waren Post und SBB durch SP-Kapitalisten belegt, jetzt kommt erstmals eine Person von aussen und mit Auslanderfahrung, die Bundesbetriebe nicht mehr mit einer Berner Brille anschaut», sagt der FDP-Nationalrat Ruedi Noser, der mit Ruoff im Präsidium des Branchenverbandes ICT Switzerland sitzt. Auf alte Seilschaften muss sie bei der Transformation des Riesen wenig Rücksicht nehmen. Andererseits hat sie noch kein Netzwerk, das ihr bei Gegenwind Deckung geben könnte.
Ein Problem zumindest wird sich von selbst lösen: Die Tristesse am Hauptsitz wird 2014 beendet. Dann bezieht die Post AG ihr neues Hauptquartier in Wankdorf City im Norden der Stadt. Die Grundsteinlegung war eine der ersten Amtshandlungen der obersten Briefträgerin des Landes. Die Post ins 21. Jahrhundert zu führen, wird mehr als nur eine symbolische Handlung erfordern.