Kommt ein Deutscher nach Zürich. Seit Jahren hatte seine Frau erfolglos versucht, ihn, den leidenschaftlichen Autofahrer, zum ÖV-Nutzer umzuschulen. Hier nun wagt er es, probehalber, zumal die Wege von der neuen Wohnung am Zürcher Stadtrand und dem Büro in Kloten zu den jeweiligen Bahnhöfen überschaubar sind. Und dann das: «Als jemand, der Operations verantwortet, fasziniert mich das: Mit der S-Bahn habe ich eine Umsteigezeit von nur drei Minuten in Stadelhofen, und das klappt hervorragend.»

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Also fährt nun Thomas Klühr, 53 Jahre alt und neuer Chef der Swiss, mit den Öffentlichen zur Arbeit – und versucht an der Homebase seiner Operations, dem Flughafen Zürich, wo jeder vierte Flug mit einer Viertelstunde Verspätung startet, ähnliche Traumwerte an Präzision zu installieren. Pünktlichkeit hat Klühr gleich zu Beginn seiner Amtszeit zum zentralen Thema erklärt.

Ein Kampf für Pünktlichkeit, das klingt nach «mea culpa» und Entschuldigung bei Passagieren mit Wartefrust, nach Einsicht in eigene Unzulänglichkeiten. Und natürlich gibt es einiges, was die Swiss im Betrieb besser machen kann oder zumindest anders: etwa auf fehlende Fluggäste nicht zu warten, bis ein Startfenster verfällt – sondern loszufliegen. Und diese «Hausaufgaben», sagt Klühr, die mache er auch.

Die Krux mit der Kapazität am Hub Zürich

Im Wesentlichen aber ist «Pünktlichkeit» nichts anderes als die verkappte Wiederaufnahme einer alten Diskussion: Wie löst man das Problem der beschränkten Kapazität am Flughafen Zürich? Das kann man so angehen wie Harry Hohmeister, Klührs Vorgänger, der sich rhetorisch selten Zeit für Zärtlichkeit nahm und in seinem letzten Interview als Swiss-Chef «noch mal kräftig einen rausgehauen hat», wie einige Swiss-Leute grinsen, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Hohmeister lieferte einen Rundumschlag gegen die Flughafenpolitik und damit letztlich auch gegen den politisch dominierten Flughafen selbst.

Klühr dagegen stellt das Problem als sein eigenes dar. Komme es in Spitzenzeiten bei schlechtem Wetter zu Verspätungen, sagt er, dann «kippt uns über den ganzen Tag die Pünktlichkeit». Könnte man also in der Rush Hour, wenn viele Europaflüge ankommen, Umsteiger ausspucken und zügig wieder starten wollen, ein wenig Luft schaffen, dann «brächte das vor allem Entlastungen zu den kritischen Zeiten, etwa spätabends».

So klingt das Ganze gleich viel sympathischer. Ja, das Thema Pünktlichkeit «eignet sich sehr gut, um die Kapazitätsfrage in Zürich zu adressieren», gibt er zu. Mit Flughafen und Skyguide hat er nun verabredet, «dass wir unsere Botschaften künftig besser abstimmen». Er will Ruhe ins System bringen.

Neue Zeitrechnung bei der Swiss

Der Führungswechsel bei der Swiss ist mehr als eine einfache Personalie. Er bringt auch einen Kulturwandel. Und für die Swiss beginnt zugleich eine neue Zeitrechnung, denn der Druck der Konkurrenten nimmt zu: Die staatlichen Fluglinien vom Golf, vor allem Emirates aus Dubai, Qatar Airways von der gleichnamigen Erdgas-umlagerten Halbinsel und Etihad aus Abu Dhabi mit ihrer Beteiligung Air Berlin, bauen kontinuierlich ihre Flotten aus und machen sich auf den lukrativen Langstrecken breit. Selbiges tut Turkish Airlines, als Mitglied der Star Alliance sogar Partner der Swiss. Und auf Europas Kurzstrecken ist gegen EasyJet und Ryanair nur dort ein Kraut gewachsen, wo die altehrwürdigen Flag Carrier traditionell stark sind: an ihren Heimatbasen, wie in der Schweiz eben Zürich.

Dank ihrer Kostenvorteile mit Einheitsflotte und Schmalspurservice hat EasyJet die Swiss bereits aus Basel verdrängt, in Genf hält der Kampf noch an. Diesen Rundum-Wettbewerb trägt die Lufthansa als Gruppe auf all ihren Territorien aus – und reagiert mit Zentralisierung. Tochter Swiss ist dabei voll eingebunden.

Schweizer Empfindlichkeiten

Und da kommt nun er, der eingefleischte Lufthansa-Mann mit bestem Draht zu Konzernchef Carsten Spohr, der die Bindung der Töchter an die Zentrale vorantreibt – Klühr schlug zum Amtsantritt einiges an Skepsis entgegen. Und um nicht als Vollstrecker zu gelten, prägte er früh den Satz, er sei nicht hier, um «aus der Swiss eine Lufthansa Schweiz zu machen», und betont: «Ich hatte nie den Auftrag, und es gab auch nie diese Idee.»

Die starken Ängste vor der Vereinnahmung durch die Lufthansa haben ihn sichtlich verwundert – auch, wie intensiv das Grounding von 2001 noch in den Köpfen präsent ist. Er formuliert es neutral: «Die starke emotionale Bindung der Menschen zur Swiss ist mir sehr stark aufgefallen.» Auch die Lufthansa habe in Deutschland eine «starke Verankerung», aber das sei bei weitem nicht vergleichbar. Dass ein grosses Blatt wie der «Tages-Anzeiger» eine halbe Seite damit füllt, einen Disput der Swiss mit einer Behörde über die Währung der angezeigten Flugpreise auszubreiten, dass die Sonntagszeitungen fast im Wochentakt kleine Stimmungsberichte aus Cockpit und Kabine bringen – das können nur Schweizer nachvollziehen. In Deutschland sind solche Wasserstandsmeldungen keine Zeile wert.

Zürich verzeiht nicht jeden Fehler

Er denke manchmal, es müsste doch «schon etwas mehr Stolz darüber da sein», was bei der Swiss geleistet wurde – «und eine stärkere Erkenntnis, dass der Zusammenschluss mit Lufthansa eine gute Sache war». Zwar ist Zürich mit Sicherheit ein guter Markt, aber auch der verzeiht nicht jeden Fehler.

Den schlagkräftigsten Beweis führten Schweizer: die Hunter-Strategen Lukas Mühlemann und Philippe Bruggisser. Die Lufthansa-Abgesandten Christoph Franz und Harry Hohmeister mussten kommen, um das Schiff von der Sandbank zu ziehen, unter Mithilfe jährlicher Synergien von mehreren hundert Millionen Franken, die etwa im Einkauf von Treibstoff, Dienstleistungen oder Flugzeugen anfielen. Klar, der Löwenanteil aller Leistungen bei Swiss gebühre dem hiesigen Team, attestiert Klühr. Doch «gibt es in Europa noch eine Airline von der Grösse der Swiss, die schwarze Zahlen einfliegt und nicht Teil einer Gruppe ist?», fragt er rhetorisch – denn selbstredend kennt er die Antwort: «Nein, es gibt keine.»

Zweierlei Keile

Und weil die Konkurrenten draussen immer mühsamer werden, hat Carsten Spohr die nächste Stufe der Integration verfügt. Flugpläne, Flottenplanung und Ertragsmanagement werden zentral gesteuert, «es ist auch sinnvoll, dass man Doppelspurigkeiten beseitigt und Dinge vereinfacht», sagt Klühr. Das geht vom Pilotentraining, das künftig konzernweit einheitlichen Standards folgt, bis zum Umgang mit parkenden Fliegern im Ausland, wo baugleichen Swiss- und Lufthansa-Flugzeugen noch immer unterschiedliche Keile unter die Reifen geschoben werden.

Organisatorisch drückt sich das in neuen Berichtswegen im Konzern aus: Harry Hohmeister unterstehen die Premiumlinien Lufthansa Passage (Flieger mit dem Kranich am Heck), Swiss und Austrian – Klührs Vorgänger ist also sein Chef, gewissermassen. Direkt berichtspflichtig ist Klühr nämlich dem Swiss-Verwaltungsrat. Diese Installation dient als Abstandshalter und Warnweste für Frankfurt.

Andererseits sitzt neuerdings auch Hohmeister in diesem Swiss-Verwaltungsrat, von dem in der Vergangenheit wenig zu hören war. Hohmeister diente zwar mehr als zehn Jahre erfolgreich der Swiss, ist aber unromantisch genug, seine neue Rolle nicht nur zu kennen, sondern auch zu erfüllen: Die Kosten müssen für alle Beteiligten runter, kostspielige Sentimentalitäten für Swiss zulasten der Gruppe wird er nicht zulassen. Hohmeister und Klühr werden einer alten Weisheit folgen: Wer zahlt, befiehlt. Und den Schlüssel zur Kasse verwahrt die Lufthansa.

Leise Ironie

So kommt es infolge der Neuordnung der Lufthansa-Gruppe zu der leisen Ironie, dass der klassisch norddeutsche, bullige Manager Harry Hohmeister die Swiss eigenständiger führen konnte als der zum ausgleichenden, leiseren Schweizer Charaktertypus besser passende Klühr. Antworten liefert Klühr stets trocken und sachlich, er wird weder laut noch leise, sondern bewegt sich in einer pulsneutralen Mittellage.

Bei bösen Fragen bleibt er bei der Sache, bei dämlichen verkneift er sich genervte Antworten. Und er sieht die Gretchenfrage genau so wie Hohmeister, dessen Wunschkandidat er für den Swiss-Chefposten war: Prosperieren muss die ganze Gruppe, wenn die Swiss weiter glänzen möchte. Klühr weiss, die Swiss-Kapitäne heissen Spohr und Hohmeister. Er ist der Co-Pilot.

Im Konzernvorstand sitzt Klühr, anders als Vorgänger Hohmeister, auch nicht. Er ist jedoch Mitglied eines neuen Zentralgremiums, das nur die Vorständler und die Chefs der Geschäftsfelder umfasst: das Group Executive Board. Es entscheidet in Streitfragen, die zuvor nicht auf kleineren Dienstwegen in der verschlungenen Lufthansa-Matrixorganisation beigelegt werden konnten. Die Runde unter Leitung von CEO Spohr trifft sich monatlich, zumeist am ersten Dienstag. Sie ersetzt das ungeliebte Airline Development Board, das eher als Debattierclub galt. Mit Hohmeister trifft sich Klühr auch bilateral immer wieder.

Veränderung im Jobprofil des Swiss-CEO

Das Thema Machtverlust kommentiert Klühr nüchtern: «Klar, es gibt eine Veränderung im Jobprofil des Swiss-CEO.» Ein sichtbarer Hinweis ist, dass Klühr die Aufgaben des Flugbetriebschefs, bisher ein eigenes Ressort in der Konzernleitung, nun in Personalunion selbst erledigt – was nur bedeuten kann, dass die CEO-Arbeit nicht das gesamte Zeitbudget in Anspruch nimmt. Andererseits warnen Lufthansa-Interne davor, Klühr als schlichten Erfüllungsgehilfen der Zentrale zu betrachten; seine umgängliche, offene Art verleite bisweilen zum Trugschluss, ihm fehlten Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft. Ein Blick auf seine Karriere beweise das Gegenteil.

Klühr startete im Netzmanagement (welche Ziele fliegt man mit welchem Flugzeug wie häufig an?), einer Disziplin, die ihn bis heute «mit am meisten interessiert». Bald rutschte er in ein erstes grosses Projekt namens Lufthansa Express und bekam so strategischen Einblick, bevor er ins Controlling wechselte.

Dort stieg er zum Chefkontrolleur der Passage auf und berichtete direkt an Lufthansa-Vordenker Wolfgang Mayrhuber, der ihm 2007 die Leitung des Drehkreuzes München (MUC) anvertraute; «das war schon ungewöhnlich, als Controller ist man ja eher in der Welt der Zahlen zu Hause». Und MUC, das war unter Klühr die Wachstumsabteilung des Konzerns. Ausserdem war der Job sehr nahe an einem «echten» Airline-Chef. Klühr unterstand eine eigene Flotte (schon die Startaufstellung umfasste 120 Maschinen, deutlich mehr, als Swiss heute hat) inklusive Langstreckenfliegern, dazu eigenes Personal für Cockpit und Kabine, selbst beim Flugplan gab es Freiheiten.

Noch andere Aufgabengebiete

Mayrhubers Nachfolger an der Spitze, Christoph Franz, übertrug Klühr zusätzlich das Megaprojekt «Climb», das dem Konzern jährliche Kosten von einer Milliarde herauskürzte – ein Job, der nicht nur Freunde verschafft. Klühr zog es durch. Anschliessend beaufsichtigte er die «dezentralen Verkehre», also alle Flüge ausserhalb der Drehkreuze Frankfurt und München, zog auch in den Vorstand der Lufthansa Passage ein und betreute das Finanzressort.

In München verwaltete er zudem das milliardenschwere Joint Venture mit dem Flughafen – Lufthansa und der Flughafen betreiben das Terminal 2 gemeinsam. Klühr brachte auch den neuen «Satelliten» auf den Weg, ein weiteres Terminal im Lufthansa-Flughafenteil, das allein die Grösse des Airports Stuttgart hat. Neben dem Job als München-Boss hatte Klühr also immer noch andere Aufgabengebiete. Das verschafft Überblick.

Komplexer Flottenumbau

In Zürich sieht der Chefjob auf den ersten Blick undankbar aus: Einige Kompetenzen teilt man sich nun mit Frankfurt, und Vorgänger Hohmeister hat mit dem Umbau der Flotte Richtung Boeing 777 und Bombardier C-Series, dem Abschluss eines neuen GAV mit den Piloten sowie hervorragenden Jahresergebnissen für 2015 ein Erbe hinterlassen, das es dem Nachfolger kaum möglich macht, Glanzpunkte zu setzen.

So trieb er die Betriebsgewinnmarge erstmals auf die Rekordmarke von neun Prozent. Klühr weiss: Als Turnaround-Treiber kann er sich nicht profilieren. Er sieht als seine Hauptaufgabe für 2016 und 2017, die neuen Flugzeuge reibungslos in den Betrieb einzugliedern und die alten sukzessive herauszunehmen; tausende Schulungen, Kurse, Umstellungen bei Technik und Personalplanung, die Liste sei endlos. Die Komplexität, zwei neue Flieger inklusive einer Weltneuheit gleichzeitig einzuflotten, würden viele unterschätzen.

Zwei weitere Aufgaben

Neben dem Flottenumbau und der Pünktlichkeit identifiziert Klühr zwei weitere Aufgaben. Erstens will er die Stimmung beim fliegenden Personal verbessern, «es geht da sehr um das Thema Wertschätzung». Vor allem die Kabinenbesatzung auf der Langstrecke sei das Schaufenster zum Kunden und «zentrales Differenzierungsmerkmal zu den Fluglinien vom Golf».

Und zweitens will er den Kampf um Genf gewinnen, dort «haben wir Fortschritte gemacht, aber die Profitabilität ist noch nicht da, wo sie sein müsste». Zurückziehen wie aus Basel will er sich nicht, «wir sind die Airline of Switzerland, nicht die Airline of Zurich».

Also wird sich Klühr, der konkrete Schritte noch evaluiert, wohl darauf verlegen, Geschäftsreiseziele wie London häufiger und Paris überhaupt erst anzufliegen, dafür selten bediente Touristikstrecken ganz aufzugeben.

Ausserdem werden die neuen Bombardier-Flieger mit ihren verbrauchsarmen Triebwerken und 150 Sitzen einen Beitrag leisten: In der für Airline-Manager relevanten Grösse Umsatz pro Sitzplatzkilometer schlagen sie nicht nur die alte viertürige Avro, sondern auch einen Airbus A320, sofern der, wie in Genf häufig zu beklagen, mit zahlreichen leeren Sitzen fliegt. «Wir sollten bei der Profitabilität eine schwarze Null erreichen», fordert Klühr, allerdings «muss Genf im Konstrukt Swiss nicht dieselbe Rendite erwirtschaften wie Zürich».

Nicht nur Premium

Für Basel sieht er dagegen schwarz. Dank einschlägiger Erfahrungen im Lauf der Karriere hat Klühr «eine feste Grundüberzeugung» entwickelt: «Wenn man mal einen Standort verloren hat, kriegt man ihn nicht mehr zurück oder nur mit unglaublich hohem Ressourceneinsatz.» Soll heissen: Swiss kehrt in absehbarer Zeit nicht nach Basel zurück. Auch Eurowings sieht Klühr dort, zumindest für die nächsten zwei bis drei Jahre, nicht noch einmal angreifen.

Eurowings sei für Premium-Marken wie Swiss, die «den Fokus auf Premium beibehalten wird», eine wichtige Ergänzung. Bei Debatten, wer einen Flug durchführen darf, gelte das «Primat des Hubs». Doch die Lufthansa-Gruppe könne «nicht nur Premium anbieten, wenn wir in Europa die Nummer eins sein wollen». Das haben die Kraniche unter Schmerzen von EasyJet und Ryanair gelernt. Ideen zu einer Schweizer Marke «Swisswings» erteilt Klühr aber eine klare Absage, die halte er für «nicht darstellbar». Denn «damit würden Premium und Lowcost verknüpft».

Neues Zeitmodell entwickelt

Für den Job in der Schweiz haben Klühr und seine Frau Gudrun ein neues Zeitmodell entwickelt: Ihre Hausarztpraxis bei Frankfurt öffnet sie dienstags bis donnerstags, dann fliegt sie nach Zürich. Am Wochenende nutzen beide die Angebote der Stadt, sind oft mit den Velos unterwegs. Zumal die beiden Kinder aus dem Haus sind. Betriebswirt Felix (25) hat in Berlin das Start-up Skive gegründet; damit können Studenten Lernstoff mobil durcharbeiten. Tochter Katrin (23) studiert in Mainz Naturwissenschaften.

Was er immer noch spannend findet: Schon in München begannen die Lufthanseaten früher am Morgen zu arbeiten als die Frankfurter, und «in Zürich sind sie noch früher dran». Er selber arbeitet lieber in den Abend hinein. Dass sich in der Schweiz alle duzen, findet er hingegen «eine schöne Sache». Das hört sich ganz danach an, als habe Klühr zumindest die erste Phase seiner Swiss-Werdung erfolgreich abgeschlossen. ÖV-Nutzer und Halbtax-Besitzer ist er ja schon.