Die Flut hebt alle Boote. Was im Wattenmeer oder im Fischereihafen stimmt, gehört in der Wirtschaft in die Welt der Mythen. Das Wachstum eines Marktes oder einer Branche bedeutet nicht, dass alle Unternehmen in diesem Geschäft profitieren. Das gilt auch in der Uhrenindustrie.
Zwar hat die Schweizer Vorzeigebranche im vergangenen Jahr als Ganzes ein Rekordjahr verzeichnet. Sie hat Uhren im Wert von 22,3 Milliarden Franken exportiert, gut 30 Prozent mehr als 2020 und knapp 3 Prozent mehr als 2019, vor dem Corona-Einbruch. Aber: Längst nicht jede Marke hat sich bereits vom Corona-Einbruch erholt. Das zeigen die jüngsten Branchendaten von Luxeconsult und Morgan Stanley im Vergleich mit jenen aus dem Jahr 2019 eindrücklich (siehe Grafik unten). Sie dürften insbesondere bei den Verantwortlichen der Swatch Group wenig Freude auslösen.
Sicher: Da die Schweizer Uhrenindustrie, was Umsätze, Marktanteile oder gar Gewinne angeht, eine komplette Blackbox ist, sind auch die Branchenexperten von Luxeconsult und Morgan Stanley auf Schätzungen angewiesen. Man sollte daher nicht jede Zahl für bare Münze nehmen. Tatsache ist aber, dass die Branchendaten seit Jahren mit grosser Sorgfalt und methodisch solide erhoben werden. Es sind keine Handgelenk-mal-Pi-Daten, sondern das beste Zahlenmaterial, das es zur geheimniskrämerischen Branche gibt.
Also: Die 25 grössten Schweizer Uhrenmarken, die zusammen auf einen globalen Marktanteil von 90 Prozent kommen und ergo praktisch den gesamten Weltmarkt für Schweizer Uhren abdecken, haben den Absatz im Vergleich zu 2019 um insgesamt etwas über 4,4 Milliarden Franken gesteigert. 10 Marken aber haben weniger verkauft, 15 Marken mehr. Die 10 Verlierer haben zusammen gut 940 Millionen Franken verloren, die 15 Gewinner zusammen knapp 5,3 Milliarden hinzugewonnen.
Auffällig sind vor allem drei Dinge:
- Erstens Rolex: Mehr als die Hälfte des zusätzlichen Umsatzes von 5,3 Milliarden Franken, welchen die 15 Gewinner erwirtschafteten, entfallen allein auf Rolex. Konkret 53 Prozent oder 2,85 Milliarden Franken. Anders gesagt: Rolex hat seit 2019 deutlich mehr zusätzlichen Umsatz gebolzt als die anderen 14 Gewinner-Marken zusammen.
- Zweitens die Swatch Group: Unter den 10 Verlierer-Marken sind alle drei grossen Brands der Swatch Group, namentlich Omega, Longines und Tissot. Sie haben zusammen seit 2019 mehr als 430 Millionen Franken an Umsatz eingebüsst. Alle fünf Marken des einst grössten Uhrenkonzerns der Welt, die in den Top 25 vertreten sind (also inklusive Breguet und Blancpain), haben zusammen fast eine halbe Milliarde Franken verloren. Strategiechefin Nayla Hayek und Vize-Präsident Ernst Tanner müssen also dringend über die Bücher.
- Drittens LVMH: Auch dem grössten Luxuskonzern der Welt, LVMH, läuft es im Uhrengeschäft nicht rund. TAG Heuer ist mit einem Minus von 175 Millionen Franken der grösste Verlierer unter den grossen Marken. Aber auch Bulgari hat 100 Millionen Franken eingebüsst. Das wird LVMH-Mastermind Bernard Arnault, der gerade daran arbeitet, bis 80 Präsident bleiben zu dürfen, gar nicht schmecken. Zumal er seinem Sohn Frédéric Arnault die Leitung der wichtigsten Konzern-Uhrenmarke, TAG Heuer, höchstpersönlich anvertraut hat.
Schaut man die Veränderungen seit 2019 nicht absolut, also in Franken und Millionen an, sondern relativ, also in Prozent, zeigt sich ebenfalls ein erstaunliches Bild (siehe Grafik unten):
Förmlich explodiert zu sein scheint das Uhrengeschäft von Van Cleef & Arpels, der hochpreisigen Schmuckmarke aus dem Richemont-Konzern. Firmenchef Nicolas Bos (Bild unten) scheint mit den Uhrenkreationen seines Maisons den Geschmack der Zeit aktuell sehr genau zu treffen. Anders ist eine Umsatzverdoppelung innerhalb von zwei Jahren nicht zu erklären.
Zudem fällt auf: Am stärksten zugelegt haben mit Van Cleef & Arpels, Chanel und Hermès gleich drei Marken, deren Kerngeschäft nicht die Uhren sind, sondern eben Schmuck, Mode und Lederwaren. Könnte es sein, dass die Managerinnen und Chefs in diesen Häusern näher am Puls und Geschmack des Luxusmarktes sind als die Verantwortlichen in der Uhrenindustrie? Die Daten legen diesen Schluss jedenfalls nahe.
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