Einem Vorgesetzten fällt das Tadeln eines Mitarbeiters leichter, wenn er ihn per Sie anspricht. Das Sie schafft Distanz, das Du Nähe. Eine Nähe, die nicht immer erwünscht ist.

Wer an einem neuen Arbeitsort beginnt, wird oft gleich mit Angeboten zum Du überhäuft. Aber bevor man selbst allen das Du anbietet, sollte man sich in einer neuen Firma zunächst über die Gepflogenheiten erkundigen: Duzen sich generell alle oder nur die Mitarbeiter, die sich schon lange kennen? Wer sich zu einem Du noch nicht bereit fühlt, kann es durchaus ablehnen und später darauf zurückkommen.

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Noch vor 40 Jahren war alles viel klarer: Man duzte nur seine Familie und enge Freunde. Selbst Studenten und junge Erwachsene unter 30 siezten einander damals. Mit den 68ern wurde das Du populärer. Seit den 90-er Jahren hat der Einfluss des Englischen unser Siez-Verhalten verändert: Wer täglich im internationalen Kontakt das «You» benutzt, empfindet das Du schnell als normal. Bei Novartis, wo die Konzernsprache Englisch ist, sprechen sich die Mitarbeiter gegenseitig mit «You» und dem Vornamen an.

Die Branche entscheidet

Ob sich Mitarbeiter duzen oder siezen, hängt in erster Linie von der Branche ab. Bei den SBB gibt es zwar keine Richtlinien dazu. Trotzdem sagen einander fast alle Angestellten Du, ob es sich um Rangierarbeiter oder um Zugbegleiterinnen handelt. Dasselbe gilt für den Zürcher Verkehrsverbund: Hier duzen sich Tram-Chauffeusen und Mitglieder der Putzequipe ganz selbstverständlich. Unter Handwerkern, in der IT-Branche oder in Spitälern wechseln die Angestellten ebenfalls schnell zum Du.

In manchen Firmen haben Neuankömmlinge jedoch gar keine Wahl, sondern sind geradezu einem Duz-Zwang unterworfen. Nämlich in Unternehmungen, in denen das Du zur Unternehmenskultur gehört, wie beispielsweise bei Ikea. Beim schwedischen Möbelhaus ist das Duzen zwischen den Mitarbeitern ein wichtiger Teil der Firmenphilosophie und wird als selbstverständlich wahrgenommen. «Die Du-Form wird bereits im Einstellungsgespräch umgesetzt. Bei Ikea sind die Hierarchien flach. Es gibt keine Schranken zwischen dem Management und den Mitarbeitenden», erklärt Ikea-Sprecherin Sonja Blöchlinger. Sie ist davon überzeugt, dass sich in ihrem Betrieb die Du-Form positiv auf das Klima auswirkt.

Die lockeren Schweden

Der Grund für diesen Knigge-Import aus dem Norden ist in der Kultur des Stammlandes zu suchen. Das gilt auch für die schwedische Warenhauskette Hennes & Mauritz (H&M). Auf Schwedisch existiert keine Sie-Form. Nur die Mitglieder der königlichen Familie werden in einer speziellen Form gesiezt. Bei H&M werden die potenziellen Mitarbeiter schon im Stelleninserat geduzt egal, ob Verkäufer oder Marketing-Manager.

Im Einstellungsgespräch, das in der Du-Form verläuft, werden die Kandidaten nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Unternehmen alle duzen. Auch CEO Rolf Eriksen sowie Stefan Persson, Sohn des H&M-Gründers, duzen und lassen sich duzen. «Die Anredeform hat unserer Meinung nach nichts mit Zeichen des Respekts zu tun Respekt ist ein selbstständiger Teil unserer Firmenphilosophie. Das Duzen ist demokratisch und unterstützt den direkten Kontakt und die Offenheit, die wir in der Firma pflegen und fördern», so die Pressesprecherin Danielle Bryner.

Ähnlich klingt es bei Mobility Carsharing Schweiz. Dort ist die Duz-Kultur ebenfalls bis in die Geschäftsleitung, teilweise bis in den Verwaltungsrat vorgedrungen. Kommunikationsleiterin Monika Pirovino-Zürcher findet, Sie zu sagen passe nicht zum Unternehmen: «Die Firma ist jung, die Mitarbeitenden ebenfalls. Beim Vorstellungsgespräch herrscht noch das Sie vor, ab dem ersten Arbeitstag sagen alle du.»

Die interne Du-Regel gilt auch für PricewaterhouseCoopers (PwC), und zwar unabhängig von Rang und Alter. PR-Frau Claudia Steiger glaubt, dass dadurch das Arbeitsklima weniger verkrampft ist und die Mitarbeitenden trotzdem sehr respektvoll miteinander umgehen. Eine Mitarbeiterin der Pressestelle der Zürcher Kantonalbank bestätigt: «Auf den Respekt zwischen den Mitarbeitenden hat die Art der Ansprache unserer Meinung nach keinen Einfluss.»

Protokollarische Rangfolge

Sie weist darauf hin, dass es vielen Mitarbeitenden leichter fällt, sich offen über ein Thema oder Problem zu äussern, wenn die Distanz wegfällt, die durch eine formelle Ansprache hervorgerufen wird. Im Übrigen gelten bei der Bank die offiziellen Regeln der protokollarischen Rangfolge, in der die betriebliche Hierarchie den höchsten Stellenwert einnimmt, gefolgt von Alter und Geschlecht: Es ist dem hierarchisch Höhergestellten freigestellt, wem er das Du anbietet. Das Duzen von Kunden kommt, wie zu erwarten, weder bei der ZKB noch bei Mobility in Frage. Die schwedischen Unternehmen wenden unterschiedliche Methoden an. Die Mitarbeiter von Ikea sprechen ihre Kunden in der Schweiz mit Sie an. Für den Kunden besteht aber die Möglichkeit, die Angestellten nach der schwedischen Art zu duzen. Auch Hennes & Mauritz siezt Kunden in der Werbung, in Broschüren und im Internet. Ausnahme: Die Werbung, die sich an die ganz junge Zielgruppe wendet. In den Verkaufsläden wird man als Kunde ebenfalls meistens geduzt.

Danielle Bryner: «Die Sensibilitäten variieren von Land zu Land. Frankreich siezt viel lieber, weil dort Hierarchien ein grösseres Thema sind, während in Deutschland die Du-Form auch bei Kontakten häufiger ist.» Bei PwC ist ein Duzen von Kunden undenkbar, wie Claudia Steiger betont: «Duzen vermittelt doch einen sehr saloppen Umgang mit dem Kunden und passt vielleicht eher in einer Bar oder Boutique, aber nicht zu einem Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen.»

USA: Diese Sprache kennt kein Sie

Im Englischen sind alle auf du und du; ein «Sie» kennt die Sprache nicht. Amerikaner gehen noch weiter, indem sich auch fremde Personen sofort mit Vornamen anreden. «Die einzige Ausnahme bildet in der Regel eine so genannte C-Level-Person», erklärt Pamela Holland*, als Chief Operating Officer von Brody Communications selber eine C-Level-Person. Gemäss Pamela, welche die informelle Form im Gespräch einem Ms. Holland vorzieht, sind diese Leute in aller Regel leicht zu erkennen, sei es an der Entourage, dem massgeschneiderten Anzug oder dem grossen Büro. Werden Personen vorgestellt, so kommt in aller Regel die höchstrangige Person zuerst. Keine Regel ist ohne Ausnahme, und so kann es ratsam sein, Vorgesetzte unterhalb des C-Levels trotzdem mit Nachnamen anzureden. Pamela empfiehlt etwa, vor einem Treffen darauf zu achten, ob ein Assistent vom Chef mit Vornamen oder Nachnamen spricht. «Besonders für jüngere und Personen auf tieferen Kaderstufen schadet es aber generell nicht, wenn man anfangs ein respektvolleres Mr./Ms. Smith wählt, bis man aufgefordert wird, den Vornamen zu benutzen.» Und: «Neben Informalität legen Amerikaner viel Wert auf Nähe und Umgänglichkeit. Wenn ein ausländischer Gesprächspartner mit der Übersetzung kämpft und vielleicht eine Aussage harscher formuliert als beabsichtigt, kann dies als zu ernst oder gar arrogant empfunden werden. Ein gelegentliches Lächeln kann einem solchen Missverständnis bereits vorbeugen.» (sj)

*Pamela Holland ist Co-Autorin von «Help! Was that a Career Limiting Move?», Brody Communications 2001.