Das ist für den früheren Musterknaben Schweiz schon eine Blamage», rief der frühere Bundesrat Kaspar Villiger einmal in den Ständeratssaal. Was den früheren Finanzminister so in Rage brachte, war die Tatsache, dass unser Land zunehmend Mühe bekundete, die Maastricht-Kriterien einzuhalten, zumal es in seinen Augen nie bereits ein «Zeichen einer hervorragenden Finanzpolitik» war, diesen EU-Budgetregeln eben so knapp gerecht zu werden.

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Heute hätte Villiger noch mehr Grund, über die finanzpolitische Situation im Lande beunruhigt zu sein. Denn gemäss einer in «Le Temps» veröffentlichten Zusammenstellung erfüllen elf der 26 Schweizer Kantone die Maastricht-Kriterien nicht. Die Verschuldung in den Kantonen Freiburg, Luzern, Tessin, Waadt, Basel-Stadt, Bern, Obwalden, Neuenburg, Wallis, Jura und Genf ist höher als 60% des jeweiligen Bruttoinlandprodukts (BIP). Der Kanton Genf schlägt gar die notorischen Schlusslichter der EU-Rangliste: Belgien, Griechenland und Italien.

Eine gelbe oder rote Karte erhalten die finanzpolitischen Sünder trotzdem nicht. Denn die Maastricht-Kriterien gelten nur für die Mitgliedländer der EU, nicht aber für die Schweiz. Doch sie werden oft als Benchmark beigezogen. Christoph A. Schaltegger, Mitglied der Ökonomengruppe der Eidgenössischen Steuerverwaltung: «Die Maastricht-Kriterien geben uns Anhaltspunkte, um den Zustand der öffentlichen Haushalte in der Schweiz mit jenem anderer Staaten zu vergleichen.»

Noch knapp ein A+

Was zum Beispiel Pascal Gentinetta vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse unlängst getan hat, als er mit erhobenem Drohfinger bemerkte, die Staatsverschuldung der Schweiz, gemessen am BIP, betrage heute 56%, «womit sie sich empfindlich den in den Maastricht-Kriterien der EU festgelegten Grenzwerten nähert».

Zug und Zürich an der Spitze, Jura und Genf als Schlusslichter: Das überrascht nicht. Wo immer anhand der Finanzstärke eine Rangliste der Schweizer Kantone erstellt wird, ergibt sich das gleiche Bild. So figurieren im jüngsten Rating der Zürcher Kantonalbank (ZKB) Zürich und Zug zusammen mit Schaffhausen als AAA-Kantone ebenfalls ganz vorne, während der Jura, neben Neuenburg und Wallis, als A-Kanton ganz hinten eingestuft wird. Genf schaffte es bei der ZKB noch knapp auf ein A+.

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt der Vergleich, den das Institut de hautes études en administration publique der Universität Lausanne (Idheap) jährlich publiziert. In jener Rangliste, die die Zinsbelastung und damit indirekt die Verschuldung wiedergibt, sind alle Westschweizer Kantone in der zweiten Hälfte platziert, während Zug, neben Appenzell Innerrhoden, wiederum ganz oben erscheint.

Die Maastricht-Rangliste allein sagt allerdings über die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik von Bund, Kantonen und Gemeinden noch wenig aus. Entscheidend ist vielmehr die Entwicklung der Gesamtverschuldung. Für die Finanzwissenschafter gilt jede Schuld in einer Volkswirtschaft als tragbar, wenn die Schuldenquote konstant bleibt.

Die Schweiz hat diese Bedingung in den vergangenen 15 Jahren jedoch verletzt: Die Schuldenquote von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen ist von etwas über 30% des BIP im Jahr 1990 auf 56,1% Ende 2003 gestiegen, wobei zur Entlastung der Kantone beigefügt werden muss, dass diese Entwicklung primär auf die Kappe des Bundes geht.

Spielraum eingeschränkt

Aus dieser Entwicklung folgert Christoph Schaltegger in seinem Aufsatz «Wieviel Staatsschulden kann sich die Schweiz leisten?»: «Je länger die Schweiz eine steigende Schuldenquote aufweist, desto schwieriger wird der Ausgleich und desto eher landet sie in der Schuldenfalle, in der die laufenden Staatseinnahmen gänzlich für die Zinsaufwendungen ausgegeben werden müssen.» Langfristig könne das Wirtschaftswachstum kaum höher ausfallen als der reale Zinssatz einer Volkswirtschaft.

Die Schuldenpolitik schränkt langfristig den finanziellen Spielraum von Bund, Kantonen und Gemeinden ein. Daher erachten die ZKB-Analysten die Gesamtverschuldung für die Bewertung eines Kantons als «sehr entscheidend, da Schulden früher oder später zurückbezahlt werden müssen».

Als Vorbild unter den Schweizer Kantonen wird immer wieder St. Gallen dargestellt, der seit 1944 strenge Haushaltsgrundsätze kennt. Danach darf der Aufwandüberschuss maximal 3% des Ertrags der einfachen Steuer betragen, gleichzeitig ist ein Eigenkapital von mindestens 20% des geschätzten Steuerertrags anzustreben. Übersteigen die Ausgaben die gesetzte Limite, so müssen die Steuern entsprechend erhöht werden.

Abweichungen sanktionieren

Für Professor Gebhard Kirchgässner von der Universität St. Gallen hat sich «diese Kombination von direkt-demokratischen Ausgabenbeschränkungen, quasi automatischen Steueranpassungen und der Bildung von Eigenkapital bewährt». So musste der Kanton St. Gallen 2003 nur 1,2% seiner Gesamtausgaben für Zinsen aufwenden, bei einem gesamtschweizerischen Durchschnitt von 3,2%. In Genf waren es 4,6%.

Wesentlich für Christoph Schaltegger sind die Sanktionsregeln. Denn von ihnen hänge ab, «ob sich Regierung und Parlament an die vorgegebenen Beschränkungen halten». In einigen Kantonen werde die Verletzung der Grundregel wie in St. Gallen mit einer zwingenden Steuererhöhung sanktioniert, woraus Schaltegger den Schluss zieht: «Da Steuererhöhungen in den meisten Kantonen dem Referendum unterstellt sind, und die Bürger Steuererhöhungen häufig ablehnen, ist diese Vorschrift äusserst wirksam.»

Wie schwierig es ist, den Umgang mit Budgetregeln zu lernen, zeigen die harten Verteilungskämpfe in einzelnen Kantonen - etwa in Zürich, Basel-Stadt oder im Tessin. Nicht viel besser ist es auf Bundesebene, wo die vom Volk 2001 gutgeheissene Schuldenbremse Regierung und Parlament zwingt, den Haushalt ausgeglichen zu gestalten. Die Vorgaben des Bundesrats für das Entlastungsprogramm 2004 und die Ausgabenverzichtsplanung, die den Bundeshaushalt bis 2007 um 1,9 Mrd Fr. entlasten sollen, haben zu einem landesweiten Aufschrei bei den Betroffenen geführt.

Maastricht-Kriterien: Heftiger Streit in der EU

Im Hinblick auf die Einführung der gemeinsamen Währung von 1999 schufen die EU-Länder Mechanismen zur verstärkten Koordination ihrer Wirtschaftspolitiken. Neben den strukturpolitischen Zielen gaben sich die EU-Mitglieder verbindliche Regeln für den Staatshaushalt den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Dieser verlangt von den EU-Staaten Haushaltsdisziplin. Diese wird in den Maastricht-Kriterien definiert: Ein nominales Budgetdefizit von höchstens 3% des BIP und eine Staatsverschuldung von maximal 60% des BIP.

Mit zunehmender Schieflage der öffentlichen Haushalte entbrannte 2002 in der EU ein heftiger Streit um Sinn und Unsinn des Pakts, der jetzt mit dem Spruch des Europäischen Gerichtshofs endete, wonach es den Euro-Staaten untersagt ist, den Stabilitätspakt nach Gutdünken auszulegen.

Konkret geht es die Bestimmungen zum Strafverfahren, das jeweils eingeleitet wird, wenn ein EU-Staat die Prozentgrenzen nicht einhält. Der Pakt gibt strikte Fristen vor, die beim Ablauf des so genannten Defizitverfahrens einzuhalten sind. Wenn ein Euro-Staat sein Defizit nicht abbaut, erhält er eine Abmahnung. Hilft das nichts, ist ein mehrstufiger Sanktionsmechanismus vorgesehen, der im schlimmsten Fall zu einer Geldbusse von 0,2 bis 0,5% des BIP führen kann.

Im November 2003 hatten sich die EU-Finanzminister geweigert, die von der EU-Kommission geforderten Zwangsauflagen gegen Deutschland und Frankreich voranzutreiben und akzeptierte die im Pakt nicht vorgesehene Selbstverpflichtung beider Länder, ihre Haushalte zu konsolidieren. Die EU-Kommission betrachtete das Vorgehen der Finanzminister als illegal und klagte beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Dieser gab am 13. Juli der Kommission teilweise Recht. Der Ministerrat durfte die Sanktionen ohne Empfehlung der Kommission nicht eigenmächtig aussetzen. Doch die Kommission könne die Finanzminister ebenso wenig zwingen, ihre Empfehlungen eins zu eins anzunehmen. Vermutlich wird nun die EU-Kommission im Herbst Deutschland und Frankreich neue Empfehlungen zum Abbau des Budgetdefizits machen.