Komplementärmedizinisch tätige Ärzte und Spitäler hatten in der Schweiz lange einen schweren Stand. Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern der Schulmedizin als «einziger wissenschaftlich gesicherten medizinischen Disziplin» und Ärzten, welche für eine Verbindung moderner schulmedizinischer Massnahmen mit solchen aus der Komplementärmedizin eintraten, führten dazu, dass das Thema auch ausserhalb der Ärzteschaft ebenso kontrovers wie emotional diskutiert wurde. Heute schliesst sich der Graben zwischen Schul- und Komplementärmedizin sukzessive.
Unbestritten liegen die Stärken der Schulmedizin in der Akut- und Intensivmedizin sowie der hoch technisierten Chirurgie. Diesen Bereichen kommt in der universitären Ausbildung zu Recht ein bedeutender Stellenwert zu. Zwei Drittel aller ärztlich zu behandelnden Leiden sind indes chronischer Natur. Erwähnen könnte man hier etwa rheumatische Krankheiten, psychosomatische Leiden, chronische Schmerzsyndrome wie etwa die Migräne, Allergien und Autoimmunerkrankungen, Krebs oder wiederkehrende Infekte.
Bei solch chronischen oder immer wieder auftretenden (rezidivierenden) Leiden stösst die Schulmedizin an ihre Grenzen. Sie sieht Krankheiten in den meisten Fällen als organzentriertes Geschehen in einem ansonsten vermeintlich gesunden Organismus. Auf das betroffene Organ konzentriert sich entsprechend die konventionelle Behandlung, welche auf antagonistisch-korrektiven und auf Substitution beruhenden Prinzipien basiert. Den komplexen Wechselwirkungen zwischen den hoch vernetzten Systemen des Menschen kann dieses symptomorientierte Vorgehen indes nicht gerecht werden.
Ganzheitsmedizinisch wird versucht, gestörte Funktionen über körpereigene Regulationsmechanismen in ein neues Gleichgewicht zu bringen und den Körper damit zur Selbstheilung anzuregen. Während der gesunde Organismus Störgrössen von innen und aussen auszubalancieren vermag, ist Krankheit eine Folge eingeschränkter oder blockierter Regulationsmechanismen. Diese ganzheitliche Sichtweise und Verfahren wie etwa die Traditionelle Chinesische Medizin, die Neuraltherapie usw. beruht auf den Ansätzen der modernen Biokybernetik.
Zum Stichwort Wirtschaftlichkeit lässt sich sagen, dass eine ganzheitsmedizinische Therapie aufgrund ihrer umfassenden, ursächlicheren Ausrichtung den gleichzeitigen Gang zu mehreren Spezialisten oft ersetzen kann. Hierin liegt nur eine der Sparmöglichkeiten, die durch die zielgerichtete Kombination von Schul- und Komplementärmedizin nutzbar gemacht werden könnten. Dies gilt ganz besonders für die Behandlung von komplexen Krankheitsbildern im Spital.
In der Schweiz existieren bislang vier komplementärmedizinisch ausgerichtete Privatspitäler. Es sind dies die Ita-Wegmann-Klinik sowie die Lukas- Klinik in Arlesheim, das Paracelsus-Spital in Richterswil und die Äskulap-Klinik in Brunnen SZ. Gesamtschweizerisch repräsentative Befragungen sprechen in Bezug auf solche Einrichtungen eine deutliche Sprache: Eine Umfrage des Sozialforschungsinstituts Polyquest ergab, dass sich 52% (2000) bzw. 55% (2001) der Bevölkerung lieber in einem komplementärmedizinisch ausgerichteten Spital behandeln lassen möchten als in einem herkömmlichen, sofern die Behandlungskosten von der Krankenversicherung übernommen werden (vgl. Kuchengrafiken). Der Frage, ob die gegenwärtige ärztliche Versorgung zeitgemäss und zukunftsfähig ist, widmet sich das Projekt «Neu-Orientierung der Medizin» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): In einer vom GfS-Forschungsinstitut durchgeführten Erhebung forderten 78% der Bevölkerung mehr Komplementärmedizin, hingegen nur 21% mehr (konventionelle) Spitzenmedizin.
Diese drei Umfragen haben ein klares Votum der Bevölkerung nach vermehrten komplementärmedizinischen Angeboten im Spital und in der ambulanten Versorgung zu Tage gebracht. Gleichzeitig laufen Evaluationsprojekte zur Prüfung der Qualität, Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit spezifischer komplementärmedizinischer Verfahren. Das bedeutendste ist das wissenschaftliche «Programm zur Evaluation der Komplementärmedizin» (PEK) des Bundesamtes für Sozialversicherung. Das Programm entstand im Zusammenhang mit der vorläufig bis 2005 befristeten Aufnahme der wichtigsten komplementärmedizinischen Methoden in den Leistungskatalog der Grundversicherung. 85% der in der zweiten Polyquest-Umfrage Befragten sprachen sich übrigens für eine Beibehaltung dieser Kassenpflicht aus.
Ärztlich versus nichtärztlich
Trotz der deutlichen Nachfrage nach einer besseren komplementärmedizinischen Versorgung herrscht in der Bevölkerung oft Unklarheit bezüglich ärztlicher bzw. nichtärztlicher Komplementärmedizin. Letztere wird von Heilpraktikern ohne universitäre medizinische Ausbildung ausgeübt.
Gerade in der stationären Behandlung schwerkranker Patienten aber sind neben den Pflegenden fachkundige Ärzte gefragt; Ärzte, die ihr nach wie vor stark schulmedizinisch geprägtes Studium durch geregelte Zusatzabschlüsse in komplementärmedizinischen Disziplinen ergänzt haben. Nur diese notabene sind berechtigt, ihre komplementärmedizinischen Leistungen über die obligatorische Krankenversicherung abzurechnen.
Um Patienten sinnvoll, wirtschaftlich und nachhaltig behandeln zu können, braucht es Ärzte, die ungeachtet von Ideologien jene sinnvolle Verbindung von Therapien finden, die dem chronisch leidenden Patienten nachhaltig helfen. Die weitere, möglichst objektive Aufklärung über Möglichkeiten und Grenzen einer ganzheitlich orientierten Medizin ist deshalb nach wie vor dringend notwendig.
Marcel G. Brander ist Chefarzt und Klinikdirektor der Äskulap-Klinik in Brunnen SZ. Er präsidiert die Union schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen und ist Mitglied des Lenkungsausschusses des «Programms Evaluation Komplementärmedizin» (PEK).