Margrethe Vestager glaubt an europäische Werte. Diese verteidigt die EU-Wettbewerbskommissarin auch dann vehement, wenn ihr heftige Kritik entgegenschlägt. Mit Google und Facebook hat sie sich bereits angelegt. Ihre aktuelle Entscheidung, eine Fusion von Siemens und Alstom abzulehnen, hat sowohl in Deutschland als auch in Frankreich für Verärgerung gesorgt. Auch in der Schweiz bedauerte Stadler-Rail-Chef Peter Spuhler das Veto zur Fusion – der Thurgauer Schienenfahrzeughersteller interessierte sich für Unternehmensteile der beiden Konkurrenten.

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Business Insider Deutschland hat mit Vestager in ihrem Strassburger Büro über die umstrittene Siemens-Entscheidung, Europas Chancen im Wettbewerb mit den USA und China sowie ihre politische Zukunft in Brüssel gesprochen.

Siemens-Chef Joe Kaeser hat harsch auf Ihre Entscheidung reagiert, die Fusion von Siemens und Alstom zu stoppen. Haben Sie darüber nachgedacht, wie Ihre Entscheidung in Frankreich und Deutschland ankommt?
Margrethe Vestager: Man kann nicht beeinflussen, was andere wahrnehmen. Es ist wichtig, zu erklären, dass die Entscheidung einen Hintergrund hat — nicht nur gegenüber Frankreich und Deutschland, auch gegenüber den anderen EU-Ländern. Ich schaue auf das Gesamte. Ich nehme keine Anweisungen an und ich erwarte auch keine. Das macht die gesamte Kommission so. Das ist ein Teil der europäischen Gemeinschaft: Wir stellen keine Interessen über andere, wir behandeln alle gleich.

Wie gehen Sie mit der Forderung des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier um, das europäische Wettbewerbsrecht auf den Prüfstand zu stellen?
Wir schauen derzeit, ob unsere Gesetze so sind, wie sie sein sollten — vor allem, um auf die Digitalisierung zu reagieren. Durch sie ändern sich Geschäftsmodelle und die Art, wie Werte geschaffen werden. Eine andere, fundamentale Debatte dreht sich um die Strategie, die die Grundlage der aktuellen Regeln ist. Früher hat man die Entscheidung getroffen: Fairer Wettbewerb soll den Europäern dienen. Es sollte keine staatlich gelenkte Wirtschaft wie in China sein, und auch kein solches Mass an Konzentration, wie es die USA zulassen. Sollten wir nun die Strategie hinter den Regeln überdenken? Sollten wir uns an den Chinesen oder Amerikanern orientieren? Oder sollten wir überlegen, was uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen? Noch nie hatten so viele Europäer einen Job wie heute.

Gibt es etwas, das Sie am aktuellen Wettbewerbsrecht in Frage stellen? Immerhin wurden nach Siemens und Alstom kritische Stimmen laut, Ihre Entscheidung basiere auf veralteten Definitionen von Wettbewerbsrecht und Monopolen.
Die Regeln funktionieren für uns. Und es gibt selten Kritik, wenn wir eine Fusion zulassen. Dann findet jeder die Regeln gut. Bei Siemens und Alstom war die Fusionsablehnung eine gute Entscheidung. Mit einem grossen Teil dieser Fusion hätten wir keine Probleme gehabt. Aber es gab nun einmal einige entscheidende Bedenken. Die Unternehmen müssen uns diese Bedenken nehmen. Und wir arbeiten dabei gern mit ihnen zusammen. Das hat auch bei schwierigen Fusionen wie etwa Bayer und Monsanto funktioniert. Aber es gibt sicher gute Gründe, zu diskutieren, ob wir noch die richtigen Regeln haben. Nämlich dann, wenn Digitalisierung und Daten darüber entscheiden, ob ein Unternehmen noch Teil des Marktes sein kann. Wollen wir den Zugang zu Daten den Googles dieser Welt überlassen? Auch Geschwindigkeit spielt hier eine Rolle. Der Markt wird schneller, also müssen auch diejenien schneller werden, die das Recht umsetzen. Wenn die Prozesse viel Zeit benötigen, leiden die Unternehmen und die Kunden müssen zu lange auf Innovationen warten.

Brussels, Belgium, May 6, 2015. -- EU Competition Commissioner Margrethe Vestager (C) is talking with colleagues prior an EU Commission college meeting in the Berlaymont, the European Union Commission headquarters. (Photo by Thierry Tronnel/Corbis via Getty Images)

Margrethe Vestager: Die Dänin ist seit 2014 EU-Wettbewerbskommissarin.

Quelle: th.mona@yahoo.fr t.monasse@laposte.net +32495226025

Wie wichtig sind Ihnen die Folgen für Europa, wenn sie über eine Fusion wie die von Siemens und Alstom entscheiden?
Das kann man gut mit der Airbus-Entscheidung vergleichen. Da war die Situation umgekehrt. Als Airbus entstand, gab es keinen europäischen Wettbewerber. So wurde also für mehr Wettbewerb gesorgt. Bei Siemens und Alstom ist das Gegenteil der Fall. Wir haben Wettbewerb und hätten nach einer Fusion weniger gehabt. Wir verstehen, dass man in Deutschland und Frankreich auf den globalen Markt schaut. Aber sowohl auf dem europäischen als auch auf dem weltweiten Markt sind Alstom und Siemens Marktführer — und sie sind direkte Wettbewerber. Wir haben uns angeschaut, ob nach einer Fusion neue Wettbewerber den Weg in den Markt gefunden hätten. Uns hat interessiert, wie präsent China in diesem Sektor aktuell ist und in der Zukunft sein wird. Was Signalanlagen angeht, ist China überhaupt nicht präsent. Chinesische Highspeed-Züge gibt es ausserhalb Chinas so gut wie gar nicht. Die Fusion hätte höhere Preise und weniger Wettbewerb gebracht — das denkbar schlechteste Szenario.

Ist es für Siemens und Alstom noch möglich, in Zukunft zu fusionieren?
Sie können ihren Vertrag neu strukturieren. Und das könnten sie schon morgen tun. Aber die Probleme müssen sie lösen. Dann könnten sie selbstverständlich erneut eine Fusion anstreben. Diese Entscheidung ist ja nicht das Ende einer Geschichte. Die Probleme, die es gab, hätten sicherlich gelöst werden können.

Sie wollen den Wettbewerb und Unternehmen in Europa schützen. Warum gibt es dann hier eigentlich kaum Tech-Giganten wie Google oder Facebook? Wirkt der Schutz nicht?
Das hat viele Gründe, aber man sollte etwa auch an SAP denken, ein sehr wichtiges Tech-Unternehmen in Europa. Womöglich haben wir lange unterschätzt, wie wichtig ein einheitlicher, digitaler, europäischer Markt ist. In den USA sieht das anders aus. Dort gibt es keine Sprachbarrieren und es gibt einen grossen Heimatmarkt. Das fehlte uns lange Zeit in Europa. Wir haben durchaus die Vorteile eines grossen Marktes, der es Unternehmen erlaubt, zu wachsen. Aber einen solchen Markt gab es für digitale Unternehmen in Europa lange nicht. Viele Tech-Unternehmen in Europa sind deshalb gar nicht erst mit globalen Ambitionen gestartet oder waren zu spät dran.

Ist der hohe Standard beim Datenschutz in Europa ein Hindernis für grosse Tech-Unternehmen, hier zu investieren?
Das ist eine Frage der Werte. Ich bin immer für Innovation, aber nicht auf Kosten von Privatsphäre, Pressefreiheit, Redefreiheit oder anderer europäischer Grundwerte. Innovationen müssen innerhalb der Regeln stattfinden, die unsere Demokratie gesetzt hat. Man könnte auch fragen: Warum haben wir bei Pestiziden nicht mehr Innovationen? Unter anderem, weil wir nicht wollen, dass Landwirte starken Giftstoffen ausgesetzt sind und weil wir sicherstellen wollen, dass unser Trinkwasser sauber ist. Das schränkt natürlich Unternehmen ein, die mit Pestiziden arbeiten. Das gleiche gilt für Arbeitsgesetze. Innerhalb dieser Grenzen können Innovationen geschaffen werden.

Die EU scheint andere Werte und Regeln zu haben, als China und die USA. Könnte das langfristig zu Lasten des Wachstums in Europa gehen?
Wir wollen kein Wachstum um des Wachstums Willen. Wir wollen nachhaltiges Wachstum, das Arbeitsplätze schafft. Das wird uns langfristig zugute kommen. Ein Grossteil der Technologie für den Klimawandel ist europäisch, weil viele Regierungen in Europa hier frühzeitig investiert haben. Auch was Energiespeicher-Technologien oder Pumpen angeht, die für die Zukunft von enormer Bedeutung sind, gibt es europäische Lösungen. Es schliesst sich nicht gegenseitig aus, dass Europa heute und in der Zukunft seinen Bürgern dient. Wir sollten nicht versuchen, wie China oder die USA zu sein. Europa ist heute der beste Ort zum Leben in der Geschichte. Wir wissen offenbar, wie man Dinge richtig macht.

«Wir sollten nicht versuchen, wie China oder die USA zu sein. Europa ist heute der beste Ort zum Leben in der Geschichte. Wir wissen offenbar, wie man Dinge richtig macht.»

Für chinesische Unternehmen ist Europa ebenfalls attraktiv, etwa für Huawei. Viele sehen die Beteiligung des Tech-Riesen am 5G-Ausbau allerdings kritisch. Ist Huawei eine Gefahr für Europa?
Wir wollen herausfinden, ob es eine Gefahr sein könnte. Denn zwischen der Technologie für 4G und 5G gibt es einen grosse Unterschied. Es geht jetzt um das Internet der Dinge, die Technologie geht tiefer an den Kern der Industrie als bisher. Deshalb ist es sehr wichtig zu wissen, womit und mit wem man es zu tun hat. Und wir sollten die Möglichkeiten besser nutzen, die uns bei öffentlichen Ausschreibungen zur Verfügung stehen. Man muss nicht immer die billigste Option nehmen. Wir müssen bestimmter werden und dürfen nichts erlauben, das unsere Werte infrage stellt. Cybersicherheit ist genauso wichtig wie physische Sicherheit.

Wie realistisch ist es, dass Huawei vom 5G-Bieterwettbewerb in den Ländern ausgeschlossen wird?
Das kommt auf die Mitgliedsstaaten an und darauf, welche Risiken sie womöglich bereit sind, einzugehen. Die Diskussion muss auf Grundlage von Fakten stattfinden, und die gibt es bisher noch nicht umfassend. Aber wenn wir zu dem Schluss kommen, dass ein Unternehmen eine Gefahr für Europas Sicherheit darstellt, bin ich überzeugt, dass ein Ausschluss möglich wäre.

Welche Rolle spielt bei solchen Diskussionen die Aufforderung von US-Präsident Donald Trump, dass EU-Staaten Huawei vom 5G-Ausbau ausschliessen sollen?
Wir haben eine lange bestehende Kooperation mit den USA auf vielen Ebenen. Und es ist wichtig, dass wir Informationen austauschen. Aber am Ende des Tages ist es unsere Entscheidung, für die wir verantwortlich sind — egal welchen Druck oder welche Ratschläge wir bekommen.

Lassen Sie uns über Ihre persönlich Zukunft in der EU-Kommission sprechen. Es heisst, Sie könnten die Rolle des Kommissionspräsidenten übernehmen. Denken Sie darüber nach?
Das habe ich auch gehört. Ich habe gegenüber der dänischen Regierung erklärt, dass ich gerne weiter in der Kommission und als Wettbewerbskommissarin arbeiten möchte. Wir haben viele Dinge angefangen, die wir auch zu Ende bringen wollen. Das Wichtigste ist nun, dass die Menschen zur Europawahl gehen.

Stehen Sie denn bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten zur Verfügung?
Wenn das für mich eine Option wäre, dann eher später. Diese Kommission hat etwas angestossen. Wir erlassen weniger Gesetze, wir versuchen mehr der bestehenden Regeln durchzusetzen, wir konzentrieren uns auf spezifische Probleme. Die nächste Kommission sollte das fortführen. Das braucht Beständigkeit.

Sie würden lieber Wettbewerbskommissarin bleiben?
Wir haben in Dänemark ein Sprichwort das besagt, dass jede Sau ihre eigenen Ferkel am liebsten mag. Die Arbeit, die ich jetzt mache, ist ein grosses Privileg. Ich stehe jeden Morgen mit dem Gefühl auf, den Europäern zu dienen. Und meine Arbeit ist sehr spezifisch: Es geht um Züge, Zement, Bier oder Daten. Das mag ich sehr gerne. Das heisst nicht unbedingt, dass ich das Mandat auch ein drittes Mal annehme, aber ein zweites Mal durchaus.

Dieser Artikel erschien zuerst bei «Business Insider Deutschland» unter dem Titel: «Europa sollte nicht versuchen, wie China oder die USA zu sein».