Fragen der Rechnungslegung sind in unserem Land noch nie so öffentlich und breit diskutiert worden wie in den vergangenen Monaten. Das ist nicht verwunderlich, angesichts der zunehmenden Verunsicherung über das, was an echten und scheinbaren Ungereimtheiten in den Jahresrechnungen ans Licht kam: fiktive Umsätze, aktivierte Betriebskosten, nicht oder falsch konsolidierte Gesellschaften und Weiteres mehr. Der Vertrauensverlust äussert sich darin, dass selbst positive Unternehmensberichte mit Skepsis aufgenommen werden: Kann das stimmen oder wird da wieder manipuliert?
Das Schwierige in der heutigen Diskussion ist die Vermischung verschiedener Faktoren, die zwar alle zum Vertrauensverlust beigetragen haben, aber nicht alle kausal zusammenhängen. Es waren diese:
Die euphorische Börsenentwicklung in den 90er Jahren, die übertriebenen Erwartungen der Anleger und der mit dem Zusammenbruch der Dot.coms eingeleitete Abschwung;
Der Zusammenbruch einzelner Unternehmen wie Enron oder Swissair in völlig verschiedenen Umfeldern und mit unterschiedlichen Ursachen;
Fehlverhalten von Managern und ungenügende Corporate Governance;
Echte Manipulationen von Jahresrechnungen, die klar gegen anerkannte Rechnungslegungsnormen verstossen;
Und schliesslich komplexe Sachverhalte, deren Darstellung in der Jahresrechnung einem gewissen Ermessen unterliegt, weil es dazu keine präzisen Regeln gibt oder weil die Meinungen über die richtige Darstellung auseinandergehen.
HANDLUNGSBEDARF ERKANNT
Der Handlungsbedarf wurde erkannt, und etliche Massnahmen zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Wirtschaft sind ergriffen worden. So wurden in der Schweiz der Swiss Code of Best Practice zur Corporate Governance eingeführt und die Richtlinie der Börse zur Verbesserung der Transparenz erlassen. Parlamentarische Vorstösse, etwa zur Corporate Governance und zum Anlegerschutz, wollen gesetzgeberischen Handlungsbedarf orten und aufnehmen. Entsprechende Abklärungen und Massnahmen sind auch in anderen Ländern und in der EU im Gang. Den wohl wirkungsvollsten Schritt haben die USA Ende Juli mit der Inkraftsetzung des Sarbanes-Oxley Act geschaffen. Dieser ist zwar ein nationales Gesetz, betrifft aber alle bei der Securities and Exchange Commission (SEC) registrierten Unternehmen und hat dadurch weltweite Auswirkungen.
In der Diskussion muss auch die Rolle (und die Möglichkeiten) der Rechnungslegung und der Wirtschaftsprüfung richtiggestellt werden. Firmenzusammenbrüche geschehen wegen falscher unternehmerischer Entscheide, nicht als Folge falscher (externer) Rechnungslegung. Die Entscheidungsträger eines Unternehmens müssen sicherstellen, dass sie unabhängig von den Rechnungslegungsstandards über die wirtschaftliche und finanzielle Lage ihres Unternehmens jederzeit im Bild sind. So wird eine Verbesserung der International Accounting Standards IAS wohl zu einem klareren Bild für die Bilanzleser führen und über die Wirkung auf die Anleger vielleicht zu einer indirekten Beeinflussung von unternehmerischen Entscheiden aber zu keinen Verbesserungen gerade dieser Entscheide.
TRUE AND FAIR
Jahresrechnungen müssen wahr und verständlich sein; sie müssen das getreue Bild der Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage einer Unternehmung als «true and fair view» wiedergeben. Insofern bezieht sich der Begriff «Bilanzwahrheit und -klarheit» nicht nur auf die Bilanz, sondern auf die Rechnungslegung der Unternehmung als Gesamtes. Nun ist «true and fair» aber kein absoluter Begriff, sondern muss definiert werden. Diese Aufgabe übernimmt das Gesetz nur zum Teil, weil es nur die grundsätzlichen Fragen regelt.
Um eine bessere Definition und damit eine bessere Vergleichbarkeit der Jahresrechnungen für den Bilanzleser zu erreichen, wurden verschiedene Rechnungslegungsstandards geschaffen, darunter Swiss GAAP FER, IAS bzw. IFRS und US GAAP (siehe Kasten). Diese definieren, wie die Lage einer Unternehmung in der Jahresrechnung «true and fair» dargestellt werden muss. Bilanzwahrheit und -klarheit ist also keine einfache Frage von Ja oder Nein, wie es auf Anhieb den Anschein macht, sondern mit einem Suchprozess nach der richtigen Darstellung der wirtschaftlichen Situation einer Unternehmung verbunden.
Bei dieser Suche nach der richtigen Darstellung geht es nicht nur um genaue Kenntnisse und buchstabengetreue Anwendung der Standards. Es braucht vor allem auch die richtige Einstellung, den richtigen Geist der für die Rechnungslegung Verantwortlichen, also CFO, CEO, Audit Committee und Verwaltungsrat («spirit on the top»). Solche Standards können nie jeden Sachverhalt im Einzelnen regeln. Dazu ist die unternehmerische Tätigkeit zu komplex und zu dynamisch. «Creative Accounting», die unsachgemässe, zu vorteilhafte oder vertuschte Darstellung eines Sachverhaltes zur Täuschung der Bilanzleser, beginnt bei der Auslegung der Ermessensspielräume, die mit den Standards unvermeidlich verbunden sind. Hier muss sich der Bilanzleser, in erster Linie Kapitalgeber und Anleger, auf die Integrität der Verantwortlichen, die Qualität der internen Kontrollen und die Wirksamkeit der Corporate Governance verlassen können. Rechnungslegung hat damit einen direkten Zusammenhang mit Corporate Governance, was auch für den Wirtschaftsprüfer von grösstem Interesse ist.
WESENTLICHKEIT UND FORTFÜHRUNG
Jedes Set von Rechnungslegungsvorschriften beruht auf Grundsätzen, von denen einige offensichtlich sind etwa Vollständigkeit der erfassten Geschäftstransaktionen oder richtige zeitliche Abgrenzung. Zwei davon bedürfen hier einer kurzen Erläuterung: der Grundsatz der Wesentlichkeit («Materiality») und der Grundsatz der Fortführung der Unternehmenstätigkeit («Going Concern»). Beide Grundsätze sind für das Verständnis der Rechnungslegung äusserst wichtig. Sie in der Praxis jederzeit richtig anzuwenden, ist unabdingbar, aber sehr anspruchsvoll.
Der Grundsatz der Wesentlichkeit basiert auf der Forderung, dass die dem Bilanzleser vermittelten Informationen für seine Beurteilung beispielsweise dessen Entscheidung, ob er Aktien kaufen oder verkaufen soll relevant sind. Die Relevanz der Information hängt von ihrer Art und von der Wesentlichkeit ab. Gewisse Informationen sind schon durch ihre Art relevant, etwa in welchen Bereichen eine Unternehmung tätig ist. Andere Informationen sind nur dann relevant, wenn sie auch wesentlich sind.
Das einleuchtendste Beispiel ist die Rappengenauigkeit: Eine Buchhaltung muss zwar auf den Rappen genau sein, aber für die Entscheidungen der Bilanzleser sind die Rappen sicher nicht relevant. Beim Suchen nach der «true and fair view» spielt diese Überlegung eine wichtige Rolle, und zwar nicht im Bereich der Rappen, sondern je nach Grösse der Unternehmung durchaus auch im Bereich der Millionen: Welche Sachverhalte müssen in den Zahlen oder in den Anmerkungen («Notes») deutlich gemacht werden? Welche können weggelassen werden, weil sie für die Entscheidungen der Bilanzleser nicht relevant sind? In diesen Fragen ist das «professional judgment» der Bilanzersteller und der Wirtschaftsprüfer gefordert, das durch den oben erwähnten «spirit on the top» unterstützt oder erschwert werden kann.
Ebenso bedeutungsvoll ist der Grundsatz der Fortführung der Unternehmenstätigkeit. Die Bewertung von Aktiven und Verpflichtungen in der Rechnungslegung basiert auf der Annahme, dass die Unternehmung ihre Tätigkeit fortsetzen will und kann. Kann diese Annahme nicht aufrechterhalten werden, zum Beispiel weil die Unternehmung überschuldet ist, ändert sich die Situation grundsätzlich, indem Aktiven zum Liquidationswert eingesetzt werden müssen und Verpflichtungen sofort fällig werden. Die Veränderung der Bilanz ist vergleichbar mit einer Unstetigkeitsstelle in einer mathematischen Funktion.
ROLLE DER WIRTSCHAFTSPRÜFER
Aufgabe der Wirtschaftsprüfer ist es, festzustellen, ob die Jahresrechnung den gesetzlichen Vorschriften und den gewählten Rechnungslegungsnormen entspricht, die Jahresrechnung also «true and fair» ist. Der Bericht der Revisionsstelle an die Generalversammlung basiert auf dem gesetzlichen Auftrag als Revisionsstelle. Er ist kein Kommentar zum Geschäftsgang und auch kein Bericht über die Qualität der Unternehmensführung. Die Wirtschaftsprüfer sind Teil der Reporting-Kette des Unternehmens, wie das Management und die Finanzanalysten. Jedes Glied dieser Kette hat seine Funktion und seine Verantwortung. Die Qualität der Berichterstattung ist letztlich nur so stark wie das schwächste Glied dieser Kette.
Der Wirtschaftsprüfer kann nicht von sich aus Informationsbedürfnisse der Anleger oder der Öffentlichkeit abdecken, die sich an die Unternehmungsleitung richten. Dazu müssten zunächst die gesetzlichen oder regulatorischen Grundlagen geschaffen werden. Ein naheliegender Bereich ist die Corporate Governance; wünschbar wäre eine ausführlichere Berichterstattung über die Qualität der internen Kontrolle und die Risikolage einer Unternehmung. Für alle diese Bereiche können Standards im Sinne von Best Practice entwickelt werden, auf die sich die Prüfung und die Beurteilung durch den Wirtschaftsprüfer beziehen kann. Durch persönliche Integrität und eine hohe Professionalität ihrer Arbeit müssen Wirtschaftsprüfer zur Qualität der Berichterstattung beitragen. Dafür müssen sie gerade stehen. Die Unternehmungsführung hingegen ist Sache des Managements.
Corporate Governance, Unternehmensstrategie, Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung können ihre Wirkung nur voll entfalten, wenn sie auf gleich hohem Niveau miteinander korrespondieren. Persönliche Integrität aller Beteiligten ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dazu. Fällt ein Bereich ab, entsteht eine Schwachstelle, die den langfristigen Erfolg gefährden kann.
Edgar Fluri, Dr. rer. pol., dipl. Wirtschaftsprüfer, ist Präsident des Verwaltungsrates der PricewaterhouseCoopers AG, Basel, und Titularprofessor für Wirtschaftsprüfung an der Universität Basel.
Globales
Swiss GAAP* FER: Fachempfehlungen zur Rechnungslegung in der Schweiz, Mindeststandard der Schweizer Börse
IAS: International Accounting Standards, seit diesem Jahr werden sie als IFRS: International Financial Reporting Standards bezeichnet
US GAAP*: für die USA und in den US kotierte, ausländische Unternehmen massgebende Standards
*Generally Accepted Accounting Principles.