Herr Odier, warum arbeiten Sie noch?
Weil ich für unsere Bank eine Verantwortung trage. Sie wurde mir vor über dreissig Jahren übertragen. Die Verpflichtung war damals, dass ich die Bank dereinst in besserer Verfassung übergebe, als ich sie bei meinem Antritt vorgefunden hatte.
Die meisten arbeiten, um sich das Leben zu verdienen. Sie hätten es nicht nötig.
Jeder hat seine Bedürfnisse und Motive …
Haben Sie ein so teures Hobby?
Nein, kein Hobby. Mein Engagement geht weiter. In Stiftungen helfe ich, junge Leute auszubilden, Blutkrankheiten wie die Leukämie zu bekämpfen oder Künstler zu fördern. Auch engagiere ich mich für den Finanzplatz, insbesondere für die nachhaltige Finanzierung.
Patrick Odier, geboren 1955, ist Geschäftsführender Teilhaber und Verwaltungsratspräsident der Privatbank Lombard Odier. Von 2009 präsidierte der Genfer die Schweizerische Bankiervereinigung. Odier studierte Wirtschaft in Genf und Finanzwissenschaften in Chicago. Seit 1982 arbeitet er in der Familien-Bank, seit 2008 als Managing Partner.
Und schon sind wir wieder beim Geschäft!
Nein, ich handle als Bürger. Ich suche nach Lösungen für Probleme der Gesellschaft. Ein Beispiel ist unser Kontakt mit China. Ich versuche, auf die dortige Entwicklung Einfluss zu nehmen. Auch engagiere ich mich für Flüchtlinge.
Sie sehen jung aus, sind aber bald im Pensionsalter. Wann übergeben Sie?
Meine Kinder sind schon involviert. Sie engagieren sich nebenberuflich in erheblichem Umfang an humanitären oder kulturellen Projekten, die der Gesellschaft zugutekommen.
«Wir müssen jetzt handeln, nicht in fünf oder zehn Jahren.»
Patrick Odier über den Klimawandel
Es gibt immer mehr Elektronik im Leben, Mails, Whatsapp … Alles beschleunigt sich. Bereitet Ihnen dies keine Mühe?
Im Gegenteil. Mir geht es oft zu langsam voran. Nehmen wir den Klimawandel: Die Gefahren der Erderwärmung werden extrem unterschätzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wir müssen jetzt handeln, nicht in fünf oder zehn Jahren. Das Gleiche gilt in der Ausbildung. Es ist wichtig, sich ständig weiterzubilden, sonst besteht die Gefahr, auf dem beruflichen Abstellgleis zu landen. Oder beim Finanzplatz Schweiz: Die weltweite Regulierung schreitet voran, niemand wartet auf uns.
Haben sich Kunden und Ansprüche in den letzten Jahrzehnten ebenso verändert?
Unsere Kundschaft ist die gleiche wie früher. Sie besteht vor allem aus Unternehmern und Familien. Verändert haben sich die Erwartungen. Wir müssen schneller liefern und fähig sein, aus Millionen von Marktdaten in «no time» die Essenz herauszufiltern. Dies erwarten heutige Kunden.
Letztes Jahr flossen Ihrer Bank viele Neugelder zu. Wie viele waren es genau?
Netto 4 Milliarden Neugeld wurde uns anvertraut.
Woher kam das Geld?
Zuvorderst aus der Schweiz und Europa. Wir haben in sechs Ländern Zweigstellen aufgebaut, etwa in Madrid, Brüssel und London. Dann folgt der Ferne Osten. Mit Filialen in Singapur, Hongkong und Tokio sind wir mit einer lokalen Präsenz vor Ort. In Korea, China, Taiwan, Indonesien, Thailand und den Philippinen versuchen wir, die Kundschaft über Partnerschaften mit lokalen Banken zu erreichen – wir waren die erste Bank mit dieser Strategie und sind damit gut unterwegs. Und schliesslich der Nahe Osten: Bald soll – nach Dubai – unsere zweite Filiale in Abu Dhabi eröffnet werden. All das machen wir mit bloss 2480 Angestellten. Darauf bin ich stolz.
«Eine schlechte Idee wäre eine Reise nach Saudi-Arabien nicht – solange das Timing stimmt.»
Patrick Odier über Bundesrats-Reisen nach Saudi-Arabien
Wie finden Sie heraus, ob Ihre Neukunden nicht vor allem Geld verstecken wollen?
Wir wollen es nicht und schützen uns vor solchen Geldern mit Überwachung. Vermögen, das nur kurzfristig bei uns landen soll, interessiert uns nicht.
Finanzminister Ueli Maurer wollte im März mit einer Delegation nach Saudi-Arabien fliegen. Jetzt ist die Reise wegen des Khashoggi-Mordes verschoben. Wären Sie mit dabei gewesen?
Ich war nicht eingeladen. Aber eine schlechte Idee ist eine solche Reise nicht, solange das Timing stimmt. Aber solange politische Fragen nicht gelöst sind, wäre es unklug, eine Wirtschaftsdelegation nach Saudi-Arabien zu schicken. Doch der Bundesrat soll unsere Wirtschaftsinteressen im Ausland vertreten, das gilt zu gegebener Zeit auch für Saudi-Arabien.
«Die Tatsache, dass wir nach 223 Jahren immer noch existieren, zeigt doch, dass es funktioniert.»
Patrick Odier über Führungssysteme
Wer entscheidet bei Lombard Odier? Offiziell sind alle sieben Teilhaber geschäftsführend. Das geht doch gar nicht.
Doch. Wie alle führen – als Kollegium.
So wie der Bundesrat?
Ähnlich. Alle sind gleichberechtigt und einer, derzeit ich, steuert das Gremium als Primus inter pares. Im Unterschied zum Bundesrat wechselt aber der Primus nicht jedes Jahr. Und für strategische Entscheide gilt die Pflicht zur Einstimmigkeit.
Immer einstimmig?
Immer einstimmig. Das müssen wir uns erst einmal erarbeiten, denn jeder hat eine andere Herkunft und vertritt andere Interessen. So nähern wir uns durch viele Diskussionen an. Am Ende gibt es einen Kompromiss, hinter dem alle stehen.
Eine solche Struktur kann blockieren.
Die Tatsache, dass wir nach 223 Jahren immer noch existieren, zeigt doch, dass es funktioniert. Sicher vermeiden wir auf diese Weise auch vorschnelle Entscheide.
Die Genfer Privatbank Lombard Odier wurde 1796 gegründet. Heute verwaltet sie Kundenvermögen von 259 Milliarden Franken. Im letzten Jahr erzielte sie einen Gewinn von 165 Millionen Franken (ohne Einmaleffekte), 13 Prozent mehr als im Vorjahr. 2480 Mitarbeitende sind in 23 Ländern tätig.
Nach Blockaden gab es aber auch schon Abgänge. «Schwierige» Teilhaber traten aus, so letztes Jahr Hugo Bänziger.
Abgänge sollten die Ausnahme sein. Und jeder, der austritt oder pensioniert wird, erhält sein Stammkapital zurück. Die Teilhaber partizipieren zu gleichen Teilen.
Lombard Odier setzt voll auf grüne und soziale Finanzierungsprojekte. Gibt es denn viele Kunden, die nach Green-Finance-Produkten verlangen?
Ja, die gibt es, und es geht ihnen nicht nur um grüne und soziale Finanzierungsprojekte, sondern um den gesamten Anlageprozess gemäss nachhaltigen Prinzipien. Interessiert daran sind nicht nur Millennials. Es gibt auch Kunden, die wir an diese Kategorie heranführen. Wir sind dabei so weit, dass wir jedem Kontoauszug auch den CO₂-Ausstoss oder den ökologischen Fussabdruck zuordnen können. Es geht um die Methode, um die Struktur, es geht uns ums Ganze. Wir sind überzeugt, dass die Kunden mit nachhaltigen Anlagen langfristig eine höhere Rendite erzielen. Wir beeinflussen damit schliesslich auch die Kapitalzuteilung, damit sie die Welt besser macht.
Das klingt messianisch.
Nein. Wir passen uns jedem Kundenwunsch an. Zum Beispiel gibt es Menschen, die sich vielleicht weniger für die Ölindustrie interessieren, dafür für den Energiesektor. So bauen wir diesen Kunden ein Portfolio, das nach nachhaltigen Kriterien in Energiegewinnung investiert.
«Die Beurteilung und Empfehlung, sozusagen die letzte Meile der Bankdienstleistung, muss von Menschen erbracht werden.»
Patrick Odier über Private Banking im Digitalzeitalter
Wie viel muss ein Anleger dafür bringen? 1 Million und mehr?
Wenn es sich um Finanzprodukte handelt, können sie auch mit kleineren Beträgen derart investieren. Aber unsere traditionelle Kundschaft kommt natürlich mit mehr.
Apropos Millennials: Brauchen die nächsten Generationen die Privatbankiers überhaupt noch? Die Beratung kann heute digital vom Sofa aus bezogen werden.
Auch wir steuern und überwachen die Anlagen mit viel Elektronik. Millionen von Daten werden mittels Algorithmen zusammengefasst und bieten die Grundlage fürs Beratergespräch. Aber die Beurteilung und Empfehlung, sozusagen die letzte Meile der Bankdienstleistung, muss von Menschen erbracht werden.
Sie sind die Bankiers der letzten Meile.
Ich sage das, weil man dieses Konzept gut versteht. Alle Kunden sind verschieden, aber jeder verdient und hat einen Bedarf an massgeschneiderten Erklärungen. Und eine Maschine kann das nicht so einfach.
Ist Ihr Geschäft sonst verwundbar? Was passiert, wenn die Schweiz wegen regulatorischer Probleme einmal auf einer schwarzen Liste landen sollte?
Es wäre ein Problem für die ganze Wirtschaft. Es trifft die Reputation des Landes, wenn wir – aus welchem Grund auch immer – als dubios erachtet werden. Etwa bei Korrespondenzbanken, Kunden oder Behörden. So etwas hätte negative Folgen.
Im Parlament haben viele Politiker Mühe, weil uns das Ausland diktiert, wie wir regulieren müssen, zuletzt bei der Inhaberaktie. Wie sehen Sie das?
Man muss verstehen, weshalb einige müde sind. Viele sehen allerdings die Nachteile, welche entstehen können, wenn sich die Schweiz bei einzelnen Themen isoliert. Bei der Geldwäschereibekämpfung (FATF) sagten wir, dass wir den internationalen Standard nicht bloss befolgen wollen, sondern ihn auch beeinflussen möchten. Wir erreichen mehr, indem wir mitmachen. Das war schon beim automatischen Informationsaustausch so: Dort konnten wir den internationalen Standard beeinflussen.
«Man muss sich nicht immer beklagen: Ausgewogene Regulierung ist gut, denn sie schafft Vertrauen.»
Patrick Odier über Banken-Regulierung
Die, die im Parlament müde sind, beklagen immer mehr Bürokratie. Ist Ihre Bank denn nicht damit konfrontiert? Können Sie das einfach wegstecken?
Nein. Wir sind – wie alle Banken überall auf der Welt – stark reguliert. Doch man muss nicht immer darüber klagen. Ausgewogene Regulierung ist auch gut, denn sie schafft Vertrauen und stellt sicher, dass sich Banken langfristig ausrichten. Zweitens können wir unsere Stimme laut erheben. Wichtig bei der Regulierung ist, dass man früh dabei ist, um den Prozess in eine sinnvolle Richtung zu steuern und um vernünftige Ziele zu definieren.
Bei Green Finance könnte die Schweiz aktiver sein und sagen: Wir machen die Klassifizierung, was nachhaltig ist.
Absolut. Wir sind dafür ideal positioniert in der Schweiz. Hier befindet sich ein Cluster mit allen Organisationen, die damit zu tun haben. Deshalb will Lombard Odier auch die Führung in diesem Bereich übernehmen.
Aber jetzt läuft es in Brüssel. Sind Sie bei den EU-Legislativprojekten dabei?
Natürlich wollen wir sie beeinflussen.
Aber sind Sie dabei?
Nein, zuerst müssen wir unsere Beziehungen zu Europa klären.
Sowohl die Bank als auch Patrick Odier zusammen mit seiner Frau handeln wohltätig. Drei Beispiele: Jeunes@Work hilft jungen Diplomanden beim Schritt in die Geschäftswelt; die Fondation Dr. Henri Dubois-Ferrière bekämpft Blutkrankheiten, darunter Leukämie; und die Fluxum Foundation fördert Künstler.
Aber dort geht die Post ab.
Das stimmt bis zu einem gewissen Punkt. Doch ich denke, dass die Initiative besser von der Branche her kommen müsste – nicht vom Gesetzgeber. Die Regulatoren sollen subsidiär eingreifen, falls es nötig ist, aber nicht unbedingt als Initiant. In diesem Bereich kann die Industrie vieles selber machen.
Investiert die Nationalbank genügend nachhaltig?
Sie sagt, sie wolle nicht als Beispiel gelten. Sie hat ihre Politik und ist dabei unabhängig. Das muss man respektieren. Ich fände es allerdings positiv, wenn die SNB auch sagen würde, wie sie sich zum nachhaltigen Investieren positioniert. Denn je mehr staatsnahe Organisationen sich in diesem Bereich klar äussern, umso eher beschleunigt sich der Trend zur nachhaltigen Wirtschaft. Ich glaube, es ist Zeit, dies zu tun, indem wir uns kollektiv organisieren.
Wie kommentieren Sie das UBS-Urteil in Paris? Welche Folgen erwarten Sie für den Finanzplatz Genf oder Schweiz?
Es ist eine spezifische Situation, die wahrscheinlich noch einige Jahre offenbleiben wird, wenn nicht länger. Es ist schwierig für mich, dazu etwas zu sagen. Aber ich glaube, der Finanzplatz Schweiz hat sich gut reorganisiert. Er hat das Paradigma gewechselt. Ob in Genf oder Zürich: Heute existieren noch jene Banken, die ihr Geschäftsmodell antizipiert haben. Die wenigen anderen gibt es nicht mehr.
«Wir diskutieren schon 2014 darüber. Seit vier Jahren! Was denken die, die auf der anderen Seite des Tisches sitzen?»
Patrick Odier über das Verhältnis der Schweiz zur EU
Zum Rahmenabkommen. Was sagen Sie zu den neusten Tendenzen, etwa dass die SP auf den Kurs der Befürworter schwenkt?
Ich freue mich, dass sich die Parteien darum bemühen, sich klarer zu positionieren …
… sich klar dafür zu positionieren?
Natürlich. Es sollte allen klar sein, dass wir schon seit 2014 darüber diskutieren. Seit vier Jahren! Was denken die, die auf der anderen Seite des Tisches sitzen, wenn wir so lange benötigen, um jedes Detail zu klären?
Was denken Sie?
Ich jedenfalls finde, dass es Zeit ist, sich zu entscheiden.
Die Schweiz wirkt aus Brüsseler Sicht als unzuverlässig?
Wir haben eine gewisse Tradition in der Schweiz, alles genau planen zu wollen. Das hat positiv gewirkt. Aber im Moment wissen wir zum Rahmenabkommen alles, was wir wissen müssen. Und was wir nicht wissen, können wir nicht so negativ deuten, wie dies die Gegner des Abkommens mit Vorliebe tun.
Haben Sie ein Beispiel? Die Unionsbürgerschaftsrichtlinie?
Ja, die wird diskutiert, obwohl sie jetzt nicht auf dem Tisch liegt.
Also auch kein eigentliches Problem ist?
Sie ist ein mögliches Problem. Aber wir werden es besser lösen können, wenn wir darüber gleichberechtigt verhandeln. Heute ist dies nicht der Fall. Die Symmetrie der Gespräche wird sich dank dem Rahmenabkommen verbessern, nicht verschlechtern, wie dies viele behaupten.
Christoph Blocher würde sagen: Variante B wäre ein neues Freihandelsabkommen.
Wir sind bereits in der Variante B: die Bilateralen.
Also Variante C?
Variante C wäre die Isolation – oder die Übernahme durch die EU. Beide sollten ausgeschlossen sein. Das Freihandelsabkommen muss modernisiert werden. Dies anerkennen alle Parteien, denke ich. Das Abkommen ist schon sehr alt und es ist normal, dass es sich entwickeln muss. Aber eine Modernisierung wird nicht ein institutionelles Rahmenabkommen ersetzen: Die EU will das nicht und «it takes two to tango».
«Die Freiheit erwächst aus der Möglichkeit, etwas zu tun. Ohne dieses Abkommen beschränken wir diese Möglichkeiten.»
Patrick Odier über das Rahmenabkommen
Herr Blocher sagt: Wir verlieren dadurch Souveränität, wir geben die in Brüssel ab.
Ich bin absolut nicht dieser Meinung. Bessere Souveränität im Kontext der EU haben wir, indem wir mitwirken. Souveränität ist stets auch die Möglichkeit, Nein zu sagen. Heute können wir nicht Nein sagen, ohne dass uns unilaterale Sanktionen drohen.
War die Schweiz je wirtschaftlich souverän? Sie als Genfer sind hier wohl besonders sensibel. Der Einfluss des französischen Königs von 1500 bis 1800 auf die Eidgenossenschaft war omnipräsent. Er war unsere Schutzmacht.
Die Geschichte zeigt, dass wir zuerst nicht existierten, und als wir existierten, haben wir gezeigt, wie man es gut macht. Wir müssen in einer gemeinsamen Welt arbeiten, wir sind kulturell eng verbunden in Europa. Alles, was wir tun, hat mit dem Süden, Norden, Westen und Osten zu tun. In diesem Rahmen verteidigen wir unsere Prinzipien – unsere demokratischen Prinzipien, unseren Arbeitsfrieden, die Menschenrechte. All dies könnten wir mit dem Rahmenabkommen noch besser tun.
Sie können verhandeln: Was ist unser grösster Asset in den Verhandlungen mit Brüssel?
Eine gute Frage (zögert). Schlussendlich unsere Freiheit.
Das würde Herr Blocher auch sagen.
Ja, aber ich meine es in einem anderen Sinn. Die Freiheit erwächst aus der Möglichkeit, etwas zu tun. Ohne dieses Abkommen beschränken wir diese Möglichkeiten, und mit weniger Möglichkeiten haben wir weniger Freiheiten. Dieses Abkommen ist ein gutes Abkommen. Und was dabei noch nicht klar ist, wird nicht unbedingt negativ sein.