Nein, ich habe kein Verständnis mehr! Ich bin Pendler und ich bin wütend. Heute freue ich mich nicht auf den Feierabend. Mir gruselt es allein bei dem Gedanken daran, in völlig überfüllten U-Bahnen in einer Masse unfreiwilliger Schicksalsgenossen mehr als doppelt so lange für den Heimweg zu brauchen als normal.
Und vor allem fürchte ich den Moment, an dem ich dann doch auf einem S-Bahn-Bahnsteig strande und einfach hoffen muss, dass auf dem letzten Wegstück der Notfahrplan greift und ein Zug kommt, dessen Fahrer offenbar nicht Mitglied der Lokführergewerkschaft GDL ist. Ansonsten muss ich darauf bauen, dass wenigstens meine Frau Verständnis hat, eine Stunde ihrer Zeit opfert und mich aufsammelt.
Zugegeben, ich bin parteiisch, wenn es um den Bahnstreik geht. Ich bin ein Betroffener. Aber es wäre auch schwierig, jemanden zu finden, der nicht betroffen ist. Denn auch jeder, der mit dem Auto fährt, spürt, dass Deutschlands Schienenverkehr in weiten Teilen zum Erliegen gekommen ist. Sei es, weil die Staus an den Grenzen der Grossstädte heute noch ein Stückchen länger sind oder weil in den Städten endgültig kein Parkplatz mehr zu finden ist. Viele Menschen sind wie ich einfach nur noch wütend.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte das im Grundgesetz verbriefte Streikrecht für ein hohes Gut. Es ist die stärkste und oft wirksamste Waffe der Arbeitnehmer in Konfliktsituationen mit den Arbeitgebern. Wie jedes Recht ist aber auch das Streikrecht mit Augenmass zu nutzen. Das Ausmass eines Streiks muss in einer vernünftigen Relation zu den mit ihm verfolgten Zielen stehen. Und es sollte auch nur dann eingesetzt werden, wenn es keine andere Chance zu einer Kompromissfindung gibt – ganz im Sinne einer Ultima Ratio eben.
Von aller Vernunft verlassen
Im Fall des Bahnstreiks aber scheinen die streitenden Parteien von aller Vernunft verlassen. Seit fast neun Monaten schon schwelt der Konflikt zwischen der Deutschen Bahn und der GDL. Zahlreiche Verhandlungsrunden lang hat man miteinander oder auch aneinander vorbei geredet. Schon neun Mal hat die Gewerkschaft zu kürzeren oder auch fast wochenlangen Streikaktionen aufgerufen – und die Bevölkerung eines ganzes Landes zu unfreiwilligen Komparsen des Konflikts gemacht.
Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass weder die offensichtlich auf Zeit spielende Bahn noch die seit Jahren äusserst aggressiv agierende Spartengewerkschaft GDL wirklich kompromisswillig und kompromissfähig sind.
Zuletzt waren es offenbar nur noch zwei Kleinigkeiten, die einer Fortsetzung der Verhandlungen im Wege standen: die Tatsache, dass die Bahn die bisher erzielten Ergebnisse erst einmal nur unter Vorbehalt fixieren wollte. Und der Streit um die Frage, ob der Flächentarifvertrag auch für die 3100 Lokrangierführer im Konzern gelten soll. Sind dies wirklich Probleme, die sich nur mit einem Streik lösen lassen? Müssen Millionen Menschen dafür in Mitleidenschaft gezogen werden?
Nein, und nochmals Nein! Mit nur etwas gutem Willen hätte man ohne jedes Aufsehen eine Lösung finden können. Und falls man den eigenen Einigungsmöglichkeiten misstraut, könnte man nach einem neutralen Schlichter suchen und dessen Spruch akzeptieren.
Wenn ich heute Abend wieder auf dem Bahnsteig stehe und warte, werde ich nicht an die Arbeitsbedingungen der Lokführer denken, sondern an die vielen Berufsgruppen, denen es wahrscheinlich noch schlechter geht, die aber nicht die Macht haben, mit wenig Streikaufwand wesentliche Teile der Infrastruktur eines ganzes Landes blockieren zu können. Sie müssen wohl auch dann noch mit eher kargen Löhnen, langen Schichten und ungeregelten Einsatzzeiten leben, wenn die Bahn und die GDL sich irgendwann einmal doch noch geeinigt haben sollten. Das ist ungerecht und wirklich ein Grund zum streiken!
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