Glaubt man den deutschen Medien, war David Camerons Europatournee ein Flop. Häme war der Grundton vieler Berichte. Der britische Premier, so verlautete schon vor dem Treffen der «vier Präsidenten» in Brüssel, werde die gewünschte Änderung der Europäischen Verträge nicht bekommen und damit basta. Es lohnt sich, genauer hinzusehen und hinzuhören.

Dass sich Cameron so schnell nach der Wahl die Mühe machte, für seine Reformideen bei den europäischen Partnern zu werben, ist ein Zeichen, dass er Europa endlich ernst nimmt. Und wenn sich die Präsidenten der EU-Institutionen Kommission, Parlament, Rat und Zentralbank gegen die Änderung der Verträge aussprechen, so tun sie das nicht mit der Begründung, die Verträge seien sakrosankt oder gar optimal.

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Sondern weil eine Änderung in mehreren Ländern Volksabstimmungen erfordert, bei denen, wie Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, «über alles mögliche abgestimmt» würde, nur nicht über den Gegenstand selbst. Womit er ungewollt ein Urteil über die europäische Öffentlichkeit aussprach.

Auch die von Amts wegen integrationsfreudigen Chefs der EU-Institutionen begreifen nämlich, dass es in Europa – und eben nicht nur in Grossbritannien – einen Backlash gegen die «immer engere Union» gibt. Darauf hat die Meisterdeuterin des Volksempfindens inzwischen reagiert: Kürzlich wurde aus dem Umfeld von Angela Merkel und François Hollande ein Papier durchgestochen, in dem für die weitere Integration der Euro-Zone ein intergouvernementales Vorgehen gefordert wird.

Juncker, der europäische Fuchs

Merkel möchte also keine weiteren Zuständigkeiten an Brüssel abgeben. Die auf die Erhaltung französischer Souveränität seit jeher bedachte politische Klasse Frankreichs ohnehin nicht, zumal angesichts der Herausforderung durch die europafeindliche Populistin Marine Le Pen.

Ausgerechnet der alte europäische Fuchs und neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat diese Bedrohung der europäischen Institutionen als Chance begriffen.

Auf der einen Seite die immer engere Union der Euroland-Regierungen, auf der anderen das Misstrauen der Länder, die nicht zum Euro-Club gehören; auf der einen Seite der Versuch des EU-Parlaments, immer mehr Macht zu akkumulieren, auf der anderen Seite der Widerstand vieler nationaler Parlamente gegen ihre Entmachtung: Da bietet sich für die Kommission die Rolle der Vermittlerin, der Hüterin nicht nur der Verträge, sondern der Einheit der Union an.

Darum hat Juncker angekündigt, sich nur noch um die «Big Things» zu kümmern. Dazu gehören die Vervollständigung des europäischen Binnenmarkts und der Abschluss von Freihandelsabkommen, vor allem mit den USA, der Schutz der Aussengrenzen und die Lösung der Flüchtlingskrise sowie die gemeinsame Aussen-, Sicherheits-, Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik.

Ziel: Ein Europa der Diversität

Nicht zufällig ventilierte der gegen den Widerstand Camerons ernannte Juncker den Gedanken einer europäischen Armee – ein Vorhaben, das ohne Grossbritannien scheitern muss.

Nicht zufällig hat Juncker nicht nur einen Briten als Finanzkommissar ernannt, sondern mit dem Holländer Frans Timmermans einen Stellvertreter, der als Gegner europäischer Überregulierung und Verfechter grösserer Rechte für die nationalen Parlamente bekannt ist.

Der EU-Kommission ist klar, dass es kein «Europa der zwei (oder drei, oder vier) Geschwindigkeiten» gibt, weil es kein gemeinsames Ziel gibt, auf das sich alle Mitgliedsländer zubewegen, wie schnell oder langsam auch immer. Es gibt vielmehr ein Europa der Diversität, des unterschiedlichen Wohlstands, der diversen Sozialmodelle und vor allem verschiedener Grade der Integration.

Dieses Europa zu managen, ist die Chance der Kommission. Insbesondere die Erweiterung der EU – um die Ukraine etwa oder später einmal um Georgien, Weissrussland oder die Türkei nach der Ära Erdogan – dürfte leichter fallen, wenn sie nicht im Widerspruch zur Vertiefung steht, eben weil die Vertiefung nicht zwangsläufig vorgesehen ist.

Liberalisierung des Binnenmarktes

So kommen die Überlegungen der Kommission durchaus den Vorstellungen Camerons entgegen, man kann sogar von einem heimlichen Bündnis sprechen.

Doch auch die wichtigsten Regierungschefs wollen Grossbritannien in der EU behalten: Merkel, weil die Briten das wichtigste Gegengewicht gegen das «soziale Europa» der Etatisten darstellen; Hollande, weil ein «Brexit» den Nationalisten noch mehr Auftrieb geben würde: Ein französischer Austritt wäre dann keineswegs undenkbar.

Cameron hat also – der Häme kurzsichtiger Kommentatoren zum Trotz – eigentlich schon gewonnen. Er wird eine Reihe von Zugeständnissen bekommen, im günstigen Fall als Reformen, die der gesamten Union nützen, im ungünstigen Fall als Ausnahmeregelungen für Grossbritannien.

Worum geht es da? Cameron will einerseits Liberalisierungen des Binnenmarkts wie eine Lockerung der Arbeitsgesetzgebung und die Einführung des «Urheberlandprinzips» für Dienstleistungen, was insbesondere ost- und südeuropäischen Anbietern Vorteile verschaffen würde. Wichtig ist den Briten auch der Schutz des Finanzplatzes London und die Schaffung eines echten europäischen Kapitalmarkts, was auch Firmen aus Ländern mit schwachen Bankensystemen zugutekäme.

Der Sozialtourismus ist Knackpunkt

Andererseits will er Einschränkungen der Freizügigkeit im Bereich des sogenannten Sozialtourismus, für die auch die Deutschen und Franzosen plädieren. So könnte man bei EU-Zuwanderern, die erkennbar nur der Sozialleistungen wegen ihre Heimat verlassen, nicht nur die Leistungen kürzen, was jetzt schon möglich ist, sondern auch an eine Rückführung denken, ohne die Freizügigkeit im Prinzip aufzuheben.

Die Briten sähen es auch gern, wenn die nationalen Parlamente ein Vetorecht bei der EU-Gesetzgebung erhielten, etwa nach dem Modell des EU-Rats, wo die Regierungen mit «doppelter Mehrheit» EU-Vorhaben blockieren können.

Ausserdem sollten die Nichtmitglieder der Euro-Zone ein Vetorecht gegen Vorhaben der Euro-Länder erhalten, die den gleichberechtigten Zugang zum Binnenmarkt erschweren. Schliesslich will Cameron die Zusicherung, dass die in den Gründungsverträgen enthaltene Phrase von der «immer engeren Union» nicht zulasten der Subsidiarität geht, also nicht bedeutet: immer mehr Macht für Brüssel.

Diese Reformen würden die Akzeptanz Europas auch ausserhalb Grossbritanniens fördern. Auch bei der Integration gilt zuweilen: weniger ist mehr. Was die Übereinstimmung mit den bestehenden Verträgen angeht: dafür gibt es findige Juristen und dehnbare Formeln. Wer ein liberales Europa will, wird jedenfalls in die Häme gegen David Cameron und seine Reformvorschläge nicht einstimmen.

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