Eine der wichtigsten Aufgaben von Führungskräften ist es, die richtigen Entscheidungen innert nützlicher Frist zu treffen. Warum sollten dann Führungskräfte diese Kompetenz gerade bei wichtigen Entscheidungen abgeben? Viele Einwände sprechen dagegen:
1. Es dauert viel zu lange, bis Entscheidungen getroffen werden.
2. Es können gar nicht alle Mitarbeiter über die wichtigen Fragestellungen Bescheid wissen.
3. Es wird unmöglich, unpopuläre oder gar schmerzhafte Entscheide zu treffen.
4. Man verliert die Kontrolle, wird aber dennoch für Ergebnisse verantwortlich gemacht.
Führung basiert auf freiwilligem Folgen
Keine zivile Führungskraft kann Gehorsam erzwingen. Bestenfalls entsteht ein halbherziges Vortäuschen von Gefolgschaft. Selbst im Militär wird die Wirksamkeit des blinden Gehorsams zunehmend in Frage gestellt.
Niemand von uns ist davor gefeit, nicht zu folgen. Haben wir nicht alle schon einmal eine Anweisung von oben «kreativ» interpretiert, vergessen oder weg priorisiert? Warum sollten wir dann von unseren Mitarbeitern etwas anderes erwarten?
Geniale Führungskräfte schaffen es durchaus, blinden Gehorsam zu erzeugen. Dies geht so lange gut, so lange der geniale Diktator die wichtigen Entscheidungen richtig trifft – und die Korruption um ihn herum nicht zu gross wird. Nun sind realistischer Weise die meisten Führungskräfte keine Steve Jobs – und ihr Umfeld auf Dauer nicht resistent gegenüber Versuchungen der absoluten Macht.
Deshalb ist es die vornehme Aufgabe von Management, eine Organisation zu schaffen, in der gewöhnliche Mitarbeiter Aussergewöhnliches leisten können. Also auch gewöhnliche Führungskräfte aussergewöhnliche Führung.
Das irreführende Heldenbild von Chefs
Das Bild der heldenhaften Geschäftsführer auf Hochglanzmagazinen verzerrt eine realistische Einschätzung, was eine gewöhnliche Führungskraft leisten kann und auf welche Weise sie führen sollte. Viele nachhaltig erfolgreiche Führungskräfte arbeiten anders, als es in diesen Heldengeschichten dargestellt wird: Sie beziehen ihr Team stark in wichtige Entscheidungen ein.
Da dieser Einbezug jedoch informell stattfindet, dient er nicht als sichtbares Vorbild für durchschnittliche Führungskräfte. Erschwerend kommt hinzu, dass für unwichtige und manchmal unpopuläre Entscheidungen durchaus konsequente Führung von oben erforderlich ist. In solchen Fällen sind klare Entscheidungen von oben energieschonend für die gesamte Organisation.
Weil gute Führung häufig informell stattfindet, entsteht bei gewöhnlichen Führungskräften ein wenig reflektiertes, autistisches Napoleon-Bild. Dies wird erst durch jahrelange Erfahrung mit vielen Führungsfehlern korrigiert. Oder manchmal auch nicht.
Die Debatte um modernes Führen hat die Problematik noch verschärft. Nun werden unangenehme Entscheidungen in die Selbstorganisation «delegiert». Zum Beispiel, wer die Wochenend-Schicht machen soll. Die wichtigen Entscheidungen werden aber so lange diskutiert, bis ein Schein-Konsens nach der Vorstellung der Führungskraft erquält wurde.
Warum demokratische Führung überlegen ist
Vorweg eine Ausschlussklausel: Nicht jede Entscheidung sollte demokratisch gefällt werden. Und Demokratie ist nicht führungslos. Im Gegenteil: Demokratie braucht starke Führung. Sie braucht Führung, die die Notwendigkeit freiwilliger Gefolgschaft bei wichtigen Entscheidungen versteht. Und die den Abstimmenden vertraut, um damit für sich selbst Vertrauen zu verdienen.
Phase 1: Entscheidung im engeren Sinn
Eine erfolgreiche Entscheidung hat unterschiedliche Phasen. Die offensichtlichste ist die Phase der Abwägung von Alternativen bis zur Auswahl der Alternative. Diese Phase ist bei autokratischen Entscheidungsprozessen mit entscheidungsfreudigen Autokraten definitiv am schnellsten. Diese Phase ist der Sandkasten für die Allmachts-Phantasien schlechter Führungskräfte.
Nun kann man lange darüber diskutieren, ob demokratische Entscheidungen im Schnitt zur Wahl der besseren Alternative tendieren. Was jedoch logisch unbestreitbar ist: Demokratische Entscheidungsprozesse führen zu einer grösseren Zahl an Alternativen. Führungskräfte bringen ihre Alternativen ein. Und jede andere Person kann neue Alternativen einbringen, sofern diese eine gewisse Mindestzustimmung erhalten. Somit nimmt der Raum der Lösungsmöglichkeiten zu.
In demokratischen Entscheidungsprozessen erfolgt eine Abstimmung. Würde man Abstimmung zeichnen, so wäre dies wohl bei vielen ein Kreuz auf einem Stimmzettel. Das Wort selbst birgt eine viel weitergehende Weisheit: Ab-stimmen. Sich abstimmen. Eine Stimme finden.
Der Prozess vor der Wahl der Alternative ist im demokratischen Verfahren mindestens genauso wichtig wie die Entscheidung selbst. Hier finden sich Stimmen. Sie stimmen sich ab. Man hört sich besser zu, als wenn man am Schluss dann selbst die einsame Entscheidung trifft. Aber auch das «gemeine Volk» hört besser zu, weil es nicht gleich auf Kritikmodus schalten kann. Dabei entstehen meist noch Verbesserungen der Alternativen. Am Schluss treffen alle eine Entscheidung unter Berücksichtigung vieler Sichtweisen.
Ein interessanter Aspekt am Rande: Demokratische Entscheidungen sind «time boxed», das heisst auf einen fixierten Termin festgelegt. Ein endloses Verschieben von Entscheidungen oder ein Lavieren zwischen verschiedenen Optionen ist nicht möglich. Damit sind manche demokratischen Entscheidungen sogar schneller gefasst als die von entscheidungsschwachen Autokraten oder mehreren autokratischen Führern, die sich nicht einigen können.
Man kann natürlich argumentieren, dass über solche Abstimmungen nur mittelmässige Kompromisse entstehen. Autokratische Entscheidungen führen jedoch nicht zwangsweise zu besseren Ergebnissen. Typischerweise ist das Ergebnis demokratischer Entscheidungen im guten Mittel – nicht brillant aber auch nicht katastrophal. Aber das noch wichtigere Argument kommt mit der nächsten Phase.
Phase 2: Umsetzung
Gerade für weitreichende, strategische Entscheidungen ist die Qualität der Umsetzung einer Entscheidung erfolgsrelevanter als die Qualität der Entscheidung selbst. Eine perfekte Lösung schlecht oder gar nicht umgesetzt ist weniger gut als eine mittelmässige Lösung ziemlich gut umgesetzt. So sehr dies auch an unserem Selbstbewusstsein als rationalen, hochintelligenten Führungskräften kratzt.
Wenn nach einer Abstimmungsphase eine Entscheidung getroffen wurde, so verstehen die Umsetzenden die Entscheidung besser. Sie können ihr dadurch besser folgen. Selbst wenn sie anderer Meinung waren, konnten sie zumindest ihre Bedenken in den Prozess einbringen und allenfalls die Lösung beeinflussen. In einer guten Demokratie haben wir gelernt, dass wir die Entscheide der Mehrheit akzeptieren.
Nach einer demokratischen Entscheidung beginnt unmittelbar die Phase der Umsetzung. Bei autokratischen Entscheidungen beginnt dann erst die Phase der Kommunikation, der Erklärung, der Überzeugung und der Werbung für die getroffene Entscheidung. Erfahrungsgemäss gibt es jeweils ein Sperrfeuer derjenigen, denen man im demokratischen Prozess eine Bühne bieten würde. Einen demokratischen Entscheid trifft am Schluss die Mehrheit. Bei autokratischen Entscheidungen bekommt man die Gegenstimmen lange nicht zum Verstummen – manchmal auch, weil ihre Argumente und Vorschläge durchaus Berechtigung haben.
Somit sind demokratische Entscheidungen in der Regel schneller und erfolgreicher umgesetzt. Aber das heisst nicht, dass jede Entscheidung demokratisch gefällt werden muss. Führungskräfte müssen die Balance finden zwischen unwichtigen Entscheidungen, die sie aus Energieeffizienz selbst treffen – und solchen, bei denen sie demokratisch abgestimmt vorgehen wollen. Genauso muss jeder Einzelne von uns eine Balance finden. Wo folgen wir, weil es energieeffizienter ist? Und wo folgen wir nicht und verlangen eine Abstimmung, weil es wichtig ist. Idealerweise erlaubt das System solche Initiativen und Referenden.
Phase 3: Erfolgsbeurteilung und Anpassung
Entscheidungen können richtig oder falsch sein. Autokratische Entscheidungsträger haben regelmässig Mühe, Entscheidungen zu revidieren. Dies gilt insbesondere bei umstrittenen Entscheidungen, die sie gegen grösseren Widerstand durchgesetzt haben. Gerade dort ist aber eine Fehlentscheidung am wahrscheinlichsten.
Ein Autokrat muss eine Vielzahl an schlechten Entscheidungen anhäufen, bis der Autokrat selbst gestürzt wird. Die Revision von schlechten Entscheidungen dauert somit in der Regel deutlich länger als in demokratischen Entscheidungsprozessen.
Wenn in demokratischen Systemen jemand erkennt, dass eine Entscheidung falsch war oder wurde, dann wird er oder sie eine neue Abstimmung anstossen. Das Stimmvolk als Gesamtheit hat kein persönliches Ego-Problem, eine Entscheidung zu revidieren oder anzupassen.
Phase 0: Erkennen von Entscheidungsbedarf
Die grosse Überlegenheit von demokratischen Abstimmungen entsteht jedoch noch vor den bereits beschriebenen Phasen. In demokratischen Systemen werden Probleme schneller an die Oberfläche gespült. Sie werden bereits zu einem Thema gemacht, wenn eine kritische Minderheit ein Problem erkennt. Selbst wenn der Lösungsvorschlag beim ersten Mal noch scheitert oder eine falsche Lösung entschieden wird. Es findet zumindest eine Sensibilisierung und Diskussion von Lösungsmöglichkeiten statt.
In autokratischen Systemen kommen Probleme erst ab einer gewissen Brisanz und Dringlichkeit zu den Autokraten. Damit sind die Autokraten viel später daran, überhaupt mit der Lösung des Problems zu beginnen. Das Problem selbst ist dann schon viel grösser und schwieriger zu lösen. Demokratische Entscheidungen müssen weniger festgefahrene Probleme lösen. Sie lösen sie früher und damit schneller.
Wir alle müssen erst lernen, ob und wie Demokratie in Unternehmen funktionieren kann. Wir müssen Regeln finden, eine Kultur gestalten und die notwendigen Kompetenzen entwickeln. Das braucht Zeit und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen ohne gleich aufzugeben.
Demokratie ist kein einfaches Führungsexperiment. Aber es lohnt, sich damit zu beschäftigen.
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