Die vergangenen Jahre haben uns eindringlich gezeigt, wie fragil das Leben in den westlichen Wirtschaftssystemen geworden ist. Spätestens seit dem Bankencrash von 2008 ist das Vertrauen in die Versicherungen und Machtgebärden von Staats- und Konzernchefs schwer gestört. Seitdem haben sich weitere grosse Helden, grosse Firmen und grosse Institutionen entzaubert, weil deren Fassaden dem ungeheuren Druck, der sich über die Jahre scheinbarer Sorglosigkeit in den korrodierenden Dampfkesseln ständigen Wachstums aufgebaut hat, nicht mehr standhalten konnten.
Umso wichtiger ist es für den einzelnen, sich loszumachen von den alten Sicherheitsseilen, die Rettung nur vorgaukelten, zumindest jedoch zusätzliche eigene Taue zu knüpfen, die im Fall der Fälle halten. In den Jahrzehnten des umjubelten Turbokapitalismus waren wir fröhlichst von der Selbst- in die Fremdversorgung gegangen, haben immer mehr Komponenten zur eigenen Existenzdeckung (etwa Nahrung, Energie, Mobilität, Geld) an Dritte delegiert. Heute kann kaum jemand mehr sich und seine Familie aus eigener Kraft heraus das Überleben sichern. Darum wird es jetzt heissen müssen, den Grad der Fremdbestimmung rigoros herunterzufahren, um wieder ein emanzipiertes Leben führen zu können. Der Oldenburger Volkswirtschaftler Prof. Dr. Niko Paech ist einer der radikalsten Verfechter dieser sogenannten Postwachstumsökonomie.
Zu einer punktuellen De-Globalisierung
Zu den kreativen Rettungsstrategien für die Nachphase eines gecrashten Wachstumsmodells gehört die Etablierung von Sekundärwährungen, die von Euro, Dollar und Franken unabhängig machen. Weltweit gibt es ausreichend Beweise, dass so etwas funktioniert. Regionalwährungen haben zu einer Stärkung der örtlichen Wirtschaft geführt und damit zu einer punktuellen De-Globalisierung.
Besondere Erwähnung soll hier eine ganz aussergewöhnliche Währung erhalten, eine Erfindung, die vor dem immer gespenstischer werdenden Problem der Altersarmut schützen soll: Der japanische Fureai Kippu. Das Prinzip dieses Systems ist so einfach wie genial: Neben den Scheinen, dem Kleingeld und den Kreditkarten haben viele Japaner ein Stück Plastik mit Chip in ihrem Portemonnaie, das rein gar nichts mit den gewohnten Zahlungsmitteln und damit auch nicht mit klassischem Reichtum zu tun hat, sondern auf eine Zweitwährung zugreifen lässt, deren Gegenwert letztlich Menschenliebe ist. Die Zweitwährung misst sich in geleisteten Sozialstunden, also einem Zeitkredit, der im Notfall wieder für sich selbst in Anspruch genommen werden kann – ohne dass das labile Sozialsystem des Landes bemüht oder das lang Ersparte angerührt werden muss. Die Sozialstunden werden in gesunden Lebensphasen gesammelt und können in Zeiten eingelöst werden, in denen man selber dringend Hilfe benötigt – vor allem im Alter.
Haben bestimmte Lobbygruppen kein Interesse daran?
Fureai Kippu heisst übersetzt etwa «Karte des emotionalen Bandes» und wurde Mitte der Neunzigerjahre von dem ehemaligen Minister und Rechtsanwalt Tsutomu Hotta ins Leben gerufen. Ihm war es um eine nachhaltige Lösung für das Problem der Altersarmut in einer überalternden Gesellschaft gegangen. Ein weitsichtiges Engagement. Schon 2012 überschritt in Japan die Anzahl der Menschen über 65 Jahre erstmals die 30-Millionen-Marke, was ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte.
Die schmerzhafte Frage ist: Warum haben wir uns bei diesen dramatischen Aussichten und des offensichtlich nicht tragfähigen staatlichen Rentensystems nicht längst Japan zum Vorbild genommen und entsprechende öffentliche Debatten über eine Sozialwährung geführt? Weil bestimmte Lobbygruppen kein Interesse daran haben? Weil mit einer Sozialwährung kein Profit zu machen ist? Oder ist den Kreativscouts unserer Regierungen (wenn es so etwas überhaupt gibt) der Fureai Kippu einfach entgangen?
Für den Staat wenig oder gar keine Kosten
In Japan jedenfalls beteiligen sich inzwischen über 370 Non-Profit-Organisationen am Fureai-Kippu-System. «Da eine Stunde immer eine Stunde bleibt, unterliegt der Stunden-Anteil in dieser Währung überhaupt keiner Inflation. Und dieser Anteil ist solange unbegrenzt vermehrbar, wie sich Menschen finden, die bereit sind, die erforderlichen Dienstleistungen zu erbringen», kommentierte die 2013 verstorbene deutsche Architektin und Kapitalismus-Kritikerin Margrit Kennedy. «Das Fureai-Kippu-System verursacht für den Staat wenig oder gar keine Kosten. Es bringt einen ungedeckten Bedarf an Pflege mit vorhandenen, aber ungenutzten Ressourcen zusammen. Und alle profitieren davon.»
Die Utopie eines einzelnen Mannes ist Wirklichkeit geworden und hat ihre Tragfähigkeit längst unter Beweis gestellt – und sie erzeugt noch mehr: Durch Umfragen fand man heraus, dass pflegebedürftige Menschen lieber die Hilfe von Fureai-Kippu-Zahlern entgegennehmen als von Leuten, die mit Yen zahlen. Grund dafür ist die menschlichere Verbindung, die der Fureai Kippu schafft.
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