Wir Menschen gehören zur Klasse der staatenbildenden Lebewesen. Das Staatswesen umfasst dabei nicht nur unseren mikrobenstarrenden Organismus sondern im Sinne Max Webers ein «Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen». Dennoch erlaubt das in unseren Kopf kompress-gepackte autonome Nervensystem mit visueller Prägung und einem direkten Draht zum Bewegungsapparat eine Art soziologisch bedingte Brownsche Molekularbewegung die jedwelcher äusseren Kontrolle entzogen erscheint.

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Die Hitze des inneren, körpereigenen Gefechtes aus Hormonen und Fettverbrennung ist dagegen fest in der Hand einer unüberschaubaren Heerschaar von automatischen Transmittern. Das innere Gleichgewicht scheint also durch diesen Antagonismus in der Regel gesichert aber die Realität zeigt uns ein ganz anderes Bild: sobald wir die Epidermis durchschreiten beginnt das unkontrollierbare Chaos.

Suche nach Orientierung definiert Gesellschaft

Wen wundert es also, dass die Suche nach Orientierung Gesellschaft von Anfang an definiert, ja sogar als anthropologische Konstante durchgeht. Die Zeichenhaftigkeit und Konstanz der Sterne ist das ursprünglichste exoterische Orientierungssystem der Menschheitsgeschichte, das erste selbstbestimmte Auflehnen wider das Chaos und zugleich systematisches und ästhetisches Erlebnis. Leitideen jedwelcher Art für Kopf, Herz und Verstand entwickelten sich in der Folge - nicht immer zum besten aller Protagonisten, denn im Windschatten der ganzheitlichen Orientierungssysteme, mit Terrabitleitung in das humanoide Rechenzentrum, etablierte sich mit Vorliebe das ungeheuere Biest des Totalitären.

Sobald diese holistische Kralle an unserer modernen Tür des Individuellen kratzt ist es sofort da, dieses moralinsaure Aufstossen wenn es um Leitsysteme geht, das Gefühl ohnmächtig dem Unerbittlich-Didaktischen gegenüberzustehen, das jedem Abtrünnigen mit dem Scheiterhaufen der Orientierungslosigkeit droht.

Fehlende Orientierung als existenzbedrohender Faktor

Im Informations-Autoklav hoch verdichteter Grossstädte potenziert sich diese Gefühl des Ausgeliefert-Seins. Die fehlende Orientierung zwischen Nietzsches «Jenseits von Gut und Böse» und Platons betongewordene «Ideenleere» kann hier schnell zum existenzbedrohenden Faktor werden. Der bremsenlose Fixiepilot urbaner Rennstrecken lehnt sich gegen die Ohnmacht auf und gleichzeitig verlässt er sich ich beim revolutionären Blick durch die Vintage Sonnenbrille auf eine Ikonographie der Orientierung - digital oder analog.

Nahezu unbemerkt und bis heute unterbewertet moderiert Design diese Verbrüderung von antagonistischen Bedürfnissen in der Kortex des Grosshirns. Egal ob Kommunikation oder Formgebung, stets ist die Gestaltung die Grundlage des Verstehens und schafft das Kunststück gleichzeitig die Ventile für das Egomane so tariert zu öffnen, dass es nicht zur kommunikativen Kernschmelze in den Brodmann Arealen unter der Föhnfrisur kommt. Hier ist der eigentliche Wert und die soziologische Qualität von Designprozessen auszumachen, die leider allzuoft als Dekoration missverstanden wird - übrigens auch von den Gestaltern selbst. 

Hotspot richtungsweisender Designer

Dass es anders geht, beweisen viele Orientierungssysteme die bei genauerer Betrachtung über eine rein ästhetische Dimension hinausweisen. Erstaunlicherweise gibt es zum Beispiel in dem vielgescholtenen Schwabenländle mit seiner von zuffenhausen- und untertürkheimgeprägten Mittelstands-DNA einen Hotspot richtungsweisender Designer (das sage ich als Frankfurter Industriehofurgestein). Das tragische «Nichts» der ingenieurgetriebenen Dashboardtypografie, die unter anderem in der w210 und 211 Baureihe den Lenker des Fahrzeugs mit dem Stern zum orienierungslosen Amaturenbrettheadbanger werden liess, konnte erst ein Designprojektbüro aus dem Herzen Stuttgarts zum claimorientierten «Besten oder nichts» des sich Zurechtfindens gestalten.

Eine andere Urform des schwäbischen Gestalters, Andreas Uebele, macht aus Gebäuden typografische Erlebnisräume, verlegt unter anderem seine Orientierungssystemideen an die Decke einer Hochschule im Karmann Ghia Land und schickt Studenten als gut informierten Hansguckindieluft durch die allzu bodenständige Welt der Bachelor- und Master-Realität. Im globalen Massstab ist das Gelingen von Orientierungshilfen nicht weniger wichtig, insbesondere als Ergonomie-Faktor für eine immer älter werdenden Gesellschaft.

Die helveticaverachtende Pentgram-Designikone Paula Sher versuchte unlängst dieses geriatrisch orientierte Denkmodell in Windows 8 zu implementieren und wurde dafür von der funktionselitenbestimmten Computerwelt geteert und gefedert. Trotzdem, wie ich finde ein erster grosser Wurf auf den sonst so lollipopbunten mit Spielplatz-Icons verseuchten Desktop, die den Computer und das Smartphone fernab seiner Überwachungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Bedeutung als harmloses Spielzeug definieren. 

Das totalitäre Biest lauert in prozessorgesteuerten bunten Screens

In diesen prozessorgesteuerten bunten Screens lauert es wieder - das totalitäre Biest, denn erstaunlicherweise verschwindet mit dem Voranschreiten der virtuellen Orientierung das Recht auf Selbstbestimmung. Das nunmehr zum Navigationssystem mutierte Orientierungssystem gerät zum Leitsystem, das Individuen wie ökonomisch steuerbare Vektoren versteht.

Noch ist sie da, die Dialektik der Orientierung als blechgewordener Schilderwald mit reduzierter Alltags-Ikongrafie und Entscheidungsfreiheit. Aber ich glaube auszumachen, dass sich die materialisierte Form der Orientierung ausdünnt und ich selbst immer öfter Google Earth oder andere Navigationshilfen zu Rate ziehe.

Wenn es aber mit der non-virtuellen, orientierungsstiftenden Typografie und Zeichenwelt im Alltag zu Ende ginge, würde eine wichtige ästhetische Diversifizierung und damit Individualisierungsoption in den von Schwarmalgorihtmen definierten Systemen untergehen. Eine wahrhaft ausgerichtete Gesellschaft wäre die Folge.

Wir und das Design haben es immer noch in der Hand Freiräume zu schaffen und zu erhalten - auch in den Orientierungssystemen. Nach wie vor ist es manchmal sehr schön nicht zu wissen wohin es gehen soll.

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