War die SPD vor gut zwei Wochen noch im Tal des Todes aller Umfragen zur Bundestagswahl, hat die überraschende Kanzlerkandidatur von Martin Schulz in fast revolutionärer Dynamik die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen gebracht.
Die Sozialdemokraten haben sich wieder in sich selbst verliebt – und in einen Kandidaten, der endlich so klingt, wie sich das Wechselwähler und Basis gleichermassen wünschen. Anscheinend oder scheinbar? Wir wissen es nicht.
Klar ist, dass der Einheitsgipfel von CDU und CSU vor diesem Hintergrund noch greller daherkommt. Das oft genug würde- und charmefreie Aneinanderabarbeiten der Unionsschwestern hat der SPD diesen aktuellen Lucky Punch erst ermöglicht.
Hölzerne Treueschwüre
Merkel hat der CSU zu wenig angeboten, Seehofer die Kanzlerin als Marionette seiner Allmachtsfantasien missbraucht. Der Lärm seines Generalsekretärs und das Zurückmaulen der Merkel-Getreuen haben auch Union-Stammwähler abgestossen und frustriert.
Vor diesem Hintergrund wirken die neuen Treueschwüre hölzern. Martin Schulz wird die gemeinsame Pressekonferenz von Merkel und Seehofer sicherlich mit grosser Freude beobachtet haben. Die Verbitterung war ihren Gesichtern anzusehen, als sie gemeinsam vor die Kameras traten. Dass die beiden es miteinander versuchen, war zu spüren. Viel mehr aber nicht.
Ob das reicht gegen einen Kandidaten wie Schulz, dem es über Nacht gelang, die Schwärmerei linksliberaler Medien für eine grossherzige CDU-Kanzlerin nicht nur zu hintertreiben, sondern zugleich deren alte stabile Beziehungshaltung zu SPD-Kandidaten zu reaktivieren? Mit Schulz hat die Kanzlerin endlich den Kandidaten, den sie verdient.
Die SPD hat Blut geleckt
Schulz bietet im Augenblick die ältesten Kamellen der Sozialdemokratie feil, jede Menge Sozialpolitik, Umverteilung, Gerechtigkeitslyrik und Staatseuphorie, aber er tut es schmissiger, selbstverliebter und verführerischer als die Kandidaten vor ihm.
Die programmatische Anämie der Union, ihr staatstragender Konsensualismus, dem das Land viel verdankt, trägt gegen Schulz nicht weit. Die Union muss mehr sein als der geföhnte Status quo. Welche Art von Wachstum, Forschung, Marktwirtschaft, Land, Kultur, Identität, Bürgertum, Freiheit, innere Sicherheit will sie?
Welches Deutschland erträumt die Union, wenn sie sich nach zwölf Jahren an der Macht ohne Koalitionspartner denkt? Hinter Merkel ist viel von der Partei unsichtbar geworden. So wird es nicht reichen. Die SPD hat Blut geleckt, und das ist gut so. Das Land könnte den Wahlkampf bekommen, den es verdient.
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