Ein Triumph der Bescheidenheit. Für die beste hochdramatische Sopranistin der Gegenwart. In der schwersten Rolle ihres Repertoires. Eine Stunde und vierzig Minuten fast ununterbrochen Singen auf der Bühne. Mit hohen Cs nicht geizend. Gegen ein Riesenorchester von 118 Musikern an. Unablässig den furiosen Rachefantasien Ausdruck gebend, wie sie sich Hugo von Hofmannsthal auf den Spuren von Sophokles ausgedacht und Richard Strauss 1909 in ein bis heute nur von sehr mutigen Sängerinnen überhaupt zu besteigendes Klanggebirge verwandelt hat.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Ist der letzte, schneidend-scharfe C-Dur-Akkord in dieser Premiere an der Wiener Staatsoper verklungen, die für Nina Stemme zugleich ein Debüt in der unmöglichsten Rolle des gesamten Musiktheaterrepertoires ist, hat sich der Vorhang geschlossen und geht jetzt wieder auf, dann steht die schwedische Sängerin ganz allein auf der Bühne, badet förmlich in den nicht aufhören wollenden Beifallsbekundungen. Die erreichen eine ähnliche Dezibelmenge wie vorher das fantastische souveräne, glänzend bewegliche, auch laute, aber nie ehern gehämmerte Dirigat von Mikko Franck.

Wilde Weiber und Wunschmaiden

Nina Stemme ist völlig fertig. Die Augen hat sie geschlossen. Sie braucht erst mal die Ruhe der Garderobe, um wieder runterzukommen, muss wieder zu sich selbst finden, zu der patenten Frau eines Bühnenbildners und Regisseurs, Mutter von drei halbwüchsigen Kindern. 40 bis 50 mal im Jahr bricht diese sonst so ruhige, wunderbar geerdete, sich akribisch vorbereitende und ihre Karriere souverän planende Frau von Stockholm aus auf, um in den berühmtesten Opernhäusern der Welt ihre Fans zu beglücken.

Mit wilden Weibern und Wunschmaiden, den übergrossen Wagner-Heldinnen Isolde und Brünnhilde, aber auch mit Puccinis robust bibelfester Minni aus dem Goldenen Opernwesten und seiner gar nicht so eisig umgürteten Chinesenprinzessin Turandot. Sie hat zeitgleich Verdis Aida und die «Macht des Schicksals»-Leonore gesungen, die amoralische Prophetenmörderin Salome von Richard Strauss, aber auch seine feinsinnige Marschallin.

Bohrend steigernd und entäussernd

Alle wollen sie, aber sie muss sich rar machen, «denn ich weiss genau, dass auch meine Energie, die vokale wie die mentale, beschränkt ist». Ihre Agentin hat sie angewiesen, in die kommenden Jahre möglichst viele Brünnhilden zu packen, bitte alle drei, im kompletten «Ring»-Bündel. Denn jetzt ist ihre Walküren-Zeit.
Nina Stemme liebt die Rolle, sie lebt mit ihr. «Und ich will sie so intensiv wie möglich auskosten, um sie auch dann befriedigt wieder ablegen zu können.» Es wird für sie eine Zeit nach der Brünnhilde geben. Das weiss sie bestimmt. Da wird die auf der Bühne so emotionale, strahlende Sängerin prosaisch und rational. Man darf nur mit den Zinsen seiner Stimme singen, nie mit dem Kapital.

Und wenn Nina Stemme jetzt Elektra gibt, dann präsentiert sie nicht – wie manche ihre Kolleginnen – die den Vatermord rächen wollende Atridentochter mit einer offenen Fleischwunde anstelle von Stimmbändern. Sie singt deren hypertrophe Noten ohne vokale Risse und scheunentorgrosses Dauervibrato. Ruhig, balanciert, sich bohrend steigernd und entäussernd. Sie singt das schön – und trotzdem erschrickt man vor dem Furor dieser nach Mord und Tod sich verzehrenden Frau, die eben kein Monster ist, sondern ein schwer gestörter Mensch.

Vortänzerin einer aprilfrischen Petticoat-Formation

Das immerhin arbeitet Uwe Eric Laufenberg heraus in seiner sonst braven Inszenierung, die in einem Kohlenkeller des Grauens samt Geisterbahn-Paternoster ein müdes Panoptikum von Opernlemuren auffährt. Am Ende freilich ist ihm gar nichts mehr eingefallen. Während in der Finalekstase die Stemme letztmals die ganze, vitale Kraft ihre unermüdlichen Stimme auffährt, bringt der Regisseur sie um diesen sterbensmüden, sich im Wahnsinn vollendenden Schluss: Bei ihm ist Elektra nur die Vortänzerin einer aprilfrischen Petticoat-Formation, die nun albernerweise die Bühne füllt. Doch sie wird diese Rolle schon nächste Saison in besseren Inszenierungen vertiefen und verfeinern können.

Es war 2009 in der Königlichen Oper zu Stockholm. Da wurde erstmals der Birgit-Nilsson-Preis verliehen, den die grosse Wagner-Heroine selbst posthum ausgelobt und mit einer Million Dollar ausgestattet hatte. Carl Gustav und Silvia saßen auf ihren Goldstühlen, ebenso der erste, noch von der Diva ausgewählte Empfänger Plácido Domingo. Die Nilsson war eben als Turandot von der Konserve zu hören gewesen. Und jetzt sang Nina Stemme den Liebestod aus Wagners «Tristan und Isolde».

Vor ihrer legendären Landsmännin nicht verstecken

Und die damals 46-Jährige musste sich vor ihrer legendären Landsmännin nicht verstecken. Das strömte nicht nur «mild und leise», ihr Vortrag hatte Grösse, Intensität und Individualität. Da sang eine echte Hochdramatische, aber eine, die sich den jugendlichen Ton bewahrt hatte, den Wagners übergrosse Mädchenfrauen brauchen und der im Opernalltag so selten zu hören ist. Eine echte Nachfolgerin der Nilsson und doch ganz anders: weiblicher, weicher, verletzbarer, moderner.

Seither hat sich Nina Stemme wunderbar weiterentwickelt. Auch vor dieser so wichtigen «Elektra»-Premiere hatte sich Nina Stemme einen Interview-Bann auferlegt. Sie wollte sich auf die Rolle konzentrieren, nicht ablenken lassen. Man kann das altmodisch finden, das glorios-furiose Ergebnis aber gab ihr Recht. Sie hat einfach nur geprobt, hat tief Figur wie Partitur von ihr Besitz ergreifen lassen. Vorher freilich hatte sie sich unter anderem in London Kristin Scott Thomas in der Sophokles-Version angesehen.

Zuerst Wirtschaft studiert

Nina Stemme hat es immer ruhig angegangen, als hätte sie gewusst, dass die Zeit für sie arbeitet. Nach einem Wirtschaftsstudium entschied sie sich für das Singen, debütierte 1989 in Cortona als Mozarts Cherubino. Sie blühte im Kölner Opernensemble auf, sang alles Lyrische in ihrer Reichweite, aber auch schon die ersten Wagner-Rollen. 2003 legte die erste Isolde in Glyndebourne (Bayreuth folgte 2005) die Hebel ihrer längst internationalen Karriere um. Doch zwischen den Killer-Partien schiebt sie immer wieder Leichteres ein, will die Stimme flexibel, das Material geschmeidig halten – und sich auch nicht langweilen.

Mag die aus dem Mezzofach kommende Waltraud Meier als Isolde noch magischer in ihrer nicht mehr von dieser Welt kündenden Apotheose einer Liebestranszendenz gewesen sein. Die Stemme berührt durch Ausgeglichenheit, durch ruhige Würde. Sie agiert nicht als einsam Abgehobene im hochdramatischen Olymp. Sie ist eine Teamspielerin, sucht den Dialog auf der Bühne. Man kann das in Wien gut sehen – in den intensiven Dialogen mit der lodernden Riccarda Merbeth als sich nach Mann und Kind, eben nach einem «Weiberschicksal» verzehrender Schwester Chrysothemis. Oder in den fast schon übergriffigen Umarmungen mit dem wiedergefundenen Bruder Orest des rustikalen Falk Struckmann. Der befreit sie auch aus Vaters Anzug, gibt ihr den Unterrock und damit das Frausein zurück.

Sie will Stille. Denn sie weiss: «Das ist dann das Paradies.»

Die vokale Reise der Nina Stemme geht munter weiter. Wagners schon wieder tiefer gelagerte, für sie als Figur noch nicht wirklich fassliche, deshalb um so verführerische Kundry im «Parsifal» kommt noch und – endlich – auch die eben nicht nur zänkische, sondern auch sehr weibliche Färberin in der «Frau ohne Schatten» von Strauss/Hofmannsthal. Beides mit Premieren in Wien.

Zunächst aber ist Nina Stemme wieder Turandot an der Mailänder Scala, zur Expo-Eröffnung am 1. Mai, unter Riccardo Chailly, erstmals in Italien mit dem neuen Berio-Schluss. Ausserdem singt sie im Herbst, selten genug, in Göteborg eine Uraufführung in einer extra für sie komponierten Oper von Hans Gefors: In der Nachfolge von Ingrid Bergman verkörpert sie die deutschstämmige Amerikanerin Alica Huberman in dem vertonten Hitchcock-Thriller «Notorious».

Zwischen all diesen Ausbrüchen und Entäusserungen aber will Nina Stemme nur noch nach Hause kommen. Sie will Stille. Denn sie weiß: «Das ist dann das Paradies.»

Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.