So merkwürdig es klingen mag: Mit dem Referendum gegen ihre Mitgliedschaft in der EU haben sich die Briten endlich an Maggie Thatcher gerächt. Sie wusste, dass Britannien nur gross sein konnte, wenn es den Kapitalismus, den Freihandel und Europa akzeptierte; wenn es aufhörte, sich nach dem Verlust des Empire Leid zu tun und sich in ein sozialistisches Wolkenkuckucksheim verstaatlichter Betriebe und subventionierten Nichtstuns zurückzuziehen.
Anfang der 1980er Jahre, zu Beginn der Thatcher-Ära, war ich mit einer deutschen Schülergruppe in Manchester. Wir waren bei Fabrik- und Bergarbeitern untergebracht. Die Schüler, selbst aus Spandauer Unterschichtfamilien, waren von der Armut – und dem Dreck – in den kleinen Reihenhäusern schockiert. Manche den Tränen nahe.
Mehrere Nächte habe ich mit dem alten Bergarbeiter durchgetrunken, bei dem ich wohnte. Er kam aus Kattowitz, war im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis nach England geflohen, wollte als Soldat kämpfen. Unter Tage war er für den Sieg wichtiger. So haute er Kohle. Und siegte.
Und nun machte Thatcher die unprofitablen Bergwerke zu. Ich war auf ihrer Seite. Intellektuell. Emotional war es anders. Am Ende einer durchgezechten Nacht schenkte mir Mark eine kleine Bronzefigur. Sie stellt einen stolzen Bergarbeiter dar, mit Karbidlampe und Pike. Sie steht noch auf meinem Schreibtisch.
Der Aufstand der Abgehängten gegen die Gewinner
Das Referendum war der Aufstand der Leute, die Thatcher um ihren Stolz brachte. Nach Jahren des Klassenkampfs von oben war das jüngste Votum die Rache der Alten, der Abgehängten, der Verlierer gegen die Jungen, die Smarten, die Gewinner der Globalisierung.
Thatcher hatte Recht: «There is no altenative!» rief sie, und es stimmte: Der Sozialstaat war nicht bezahlbar, die staatliche Industrie nicht konkurrenzfähig, das Land heruntergekommen. London war für mich wie für die Schüler ein Schock. Müll überall, Ratten in der Regent Street, Wut in den Gesichtern und in den Punk-Lokalen: «no future» die Losung. So ging es nicht weiter.
Der traurige, sentimentale Patriotismus der Antieuropäer
Nach dem Referendum werden sich die Sieger der Volksabstimmung schnell verfeinden: Die einen wollen ein modernes, dereguliertes Grossbritannien, mehr Thatcher. Für sie ist die EU ein bürokratisches, quasi-sozialistisches Monstrum. Die anderen wollen zurück in die 1970er-Jahre, ihre Parole ist der Schutz Grossbritanniens vor der Globalisierung, als deren Instrument sie «Brüssel» sehen.
Man kennt Grossbritannien nicht, wenn man den Hass nicht versteht, der nach wie vor einer Maggie Thatcher oder einem Tony Blair entgegengebracht wird. Verkörpert wird er durch Jeremy Corbyn ebenso wie durch Nigel Farage. Farage ist der bierselige Kleinbürger, Corbyn der tweedige Intellektuelle. Beide sind sich in ihrem Antiamerikanismus, ihrem Antieuropäismus, ihrem traurigen, sentimentalen Patriotismus viel einiger, als man gemeinhin glaubt.
Der Kampf zwischen Gestern und Heute wird nicht intellektuell ausgetragen werden. Das Pfund wird weiter verfallen, Investoren werden das Land meiden. Häuser werden zwar im Wert steigen, aber keine Abnehmer finden. Die Konservativen werden sich spalten, Labour ist bereits gespalten.
Eine milde Form des Faschismus wird die Zukunft von Ukip sein
Die Ukip wird, da die Partei ihr Ziel erreicht hat, sich radikalisieren müssen, um weiter eine politische Kraft zu bleiben: Ihre Zukunft liegt in einer milden Form des Faschismus, dem die Wirtschaftskrise mehr und mehr Menschen zutreiben wird. Grossbritannien könnte in wenigen Jahren so aussehen wie Frankreich heute: ressentimentgeladen, reformunfähig, zerrissen.
Es ist ein Jammer. Seit jener Schülerreise bin ich regelmässig nach Grossbritannien gefahren. Von Jahr zu Jahr, schien es, ging es dem Land besser, wuchsen mehr Banktürme in den Himmel, sahen die Menschen auf der Strasse fröhlicher und bunter aus. Und nicht nur in London: auch in Manchester, wo ich vor einem Jahr beim Wahlkampf mit einem Labour-Abgeordneten von Tür zu Tür ging.
Europa spielte bei keinem Gespräch eine Rolle. Wohl aber immer noch Thatcher und Blair. Die Häuser, die früher der Gemeinde gehört hatten, waren privatisiert worden. Viele Bewohner waren der Anstrengung nicht gewachsen, sie in Schuss zu halten, verkauften sie an Investoren, die sie unterteilten und an Studenten oder Gastarbeiter vermieten. Aus einer Nachbarschaft war so eher eine Gegend geworden. Man kannte sich nicht mehr.
England war immer das ungehobelte Land
Und das bunte, fröhliche, moderne England, das London, das Sadiq Khan zum Bürgermeister wählte, die Kinder zum Studium nach Paris schickte und Städtetrips nach Berlin und New York unternahm – das kannte die Leute in Manchester nicht mehr. «Die im Schatten sieht man nicht», schrieb Bertolt Brecht. Sie haben sich nun bemerkbar gemacht.
Einen kleinen Schauer des Stolzes fühle ich – wider besseres Wissen – doch. England war immer das ungehobelte Land, das Land des Klassenkampfs und der Hooligans, des Mersey-Beats und des Punk Rock. Das Land, das allein stand gegen die Spanier, die Franzosen, die Deutschen und ihre kontinentalen Machtträume.
Nur ist der Traum von einem ganz anderen England dabei, in den Albtraum eines allzu bekannten England zu kippen: abgeschottet, verbittert, kleinbürgerlich, wehleidig. Einst kam ein polnischer Bergarbeiter nach Manchester, um sein Land und England vor Hitler zu retten. Bald sollen keine Polen mehr nach England kommen dürfen. Ich schaue meine Bronze-Figur an und schüttele traurig den Kopf.
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