Aufklärung setzt ja, das gehört natürlich in den Bereich der Binse, ein gewisses Mass an Verdunkelung voraus. Keine Angst, wir wollen nicht gleich zum Wochenstart schon das ganz grosse philosophische Fass aufmachen. Es soll im Folgenden vergleichsweise um eine Cola-Dose gehen.
Damit verweisen wir Ungeduldige auf den nächsten Absatz. Weil wir nämlich schon beim Thema sind. Und erst mal abschweifen müssen. Zu unserem erklärten Lieblingsautor Thomas Hardy. Der liess in seinem Roman «Blaue Augen» den angehenden Liebhaber einer eher undurchsichtigen, aber blauäugigen Pfarrerstochter an der Steilküste von Südengland hängen.
Henry Knight war über eine Klippe gestürzt, hielt sich an einem Grasbüschel fest. Unter sich die Felsen. Hinter sich das Meer. Keine Aussicht. Lang hing er da. Bis die neue Ausgabe von «Tinsley's Magazine» kam.
Mit Cliffhanger den Verkauf ankurbeln
Und damit – jetzt kommen wir zur philosophischen Cola-Dose – war der Cliffhanger in der Welt. Ein dramaturgischer Kniff zur vorübergehenden und künstlichen Verdunkelung einer Handlung zum Zwecke der Erhöhung des Aufklärungsbedürfnisses des Lesers und der Bereitschaft zum Kauf des jeweils nächsten Literaturmagazins mit der Fortsetzung der Geschichte.
Das war im viktorianischen Zeitalter. Da war alles langsamer. Die Spannung konnte wachsen von einem Kapitel zum nächsten im nächsten Monat, die Fantasie schoss langsam die Klippen hoch und ins Kraut. Dazu ist heute natürlich keine Zeit mehr.
Überall und immer auf Spannungsklippen
Wie alles andere auch hat Hardys Erfindung der rätselhaft übersteigerten Romankapitelendübersteigerung nicht nur eine bedeutende Beschleunigung erfahren. Sie – die natürlich nichts anderes ist als die Widerspiegelung des Lebens, das ja auch prinzipiell aus (bis zum Tod versteht sich) unabgeschlossenen Geschichten besteht – ist zu einem globalen, alles umfassenden Erzählmuster geworden.
Längst kommt nicht nur keine Fernsehserie (das Enkelkind der hardyschen Romantradition) mehr ohne manchmal mehrfache Cliffhanger aus. Ganze Nachrichtenseiten funktionieren nach demselben dramaturgischen Muster, reissen an, fordern möglichst spontane Bedürfnisbefriedigung heraus. Da steht man dann im Gewitter der Anreisser, die ja nichts andres sind als Cliffhanger.
«Dieses Mädchen war ständig krank. Was es dann ausnieste, erwartete keiner», liest man da (nein, es wird nicht verraten). Oder: «Der Berliner Christoph Both-Asmus hat einen Traum: als erster Mensch über Baumwipfel zu laufen. Dieses Jahr möchte er abheben – doch ein Hindernis steht noch zwischen ihm und den Baumkronen.»
Verdunkelungen nehmen Überhand
Und jetzt müssten wir hier schnell noch eine Pointe hinschreiben. Vielleicht irgendwas darüber, dass die flächendeckende Verkleisterung der Oberfläche unserer Gegenwart mit Cliffhangern nicht etwa das Aufklärungsbedürfnis erhöht, sondern zur Ermüdung desselben beiträgt.
Dass man gar nichts mehr wissen will aus Angst vor Produktenttäuschung oder aus Geschichtenüberhangsübersättigung. Und dass diese ewige Cliffhangerei nur zu zunehmender Dunkelheit führt. Aber Sie ahnen nicht, was gerade passiert ist.
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